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Agrar & Ernährung

Standpunkte Jeder Tag ohne das EU-Renaturierungsgesetz verschärft das Artensterben

Foto: EU-Parlament

Die europäische Natur ist in den tiefroten Zahlen angekommen, unsere Überlebensgrundlage steht auf dem Spiel, meint die Grüne EU-Abgeordnete Jutta Paulus. Um das zu ändern, bräuchte es vorausschauende Politik. Die liegt mit dem EU Nature Restoration Law fertig verhandelt auf dem Tisch des Umweltrates. Warum die Blockade einiger Mitgliedstaaten ein Ende haben muss und wie die Ökosysteme Europas noch gerettet können, beschreibt Paulus in ihrem Standpunkt.

von Jutta Paulus

veröffentlicht am 12.06.2024

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Die ökologische Apokalypsen-Liste ist lang: Jede fünfte Art in Europa ist vom Aussterben bedroht, 80 Prozent unserer geschützten Ökosysteme in Europa sind in einem schlechten Zustand, nur jeder fünfte Baum in Deutschland ist nach aktuellen Daten gesund. Fakt ist: Wir sind in den tiefroten Zahlen angekommen.

Das sollte uns wirklich beunruhigen, steht hier doch nichts Geringeres als unsere Überlebensgrundlage auf dem Spiel. Wobei Spiel das falsche Wort ist. Denn mit dem Überleben spielt man nicht, man sichert es. Dafür aber bräuchte es vorausschauende Politik – die mit dem europäischen Renaturierungsgesetz sogar fertig verhandelt auf dem Tisch des europäischen Umweltrates liegt. Dort aber blockieren einige Mitgliedstaateneine Einigung, um die kurzfristigen Interessen der Agrarindustrie zu bedienen.

Das atemberaubende Tempo der Apokalypse

Bereits 1947 schrieb Anton Metternich mit dem Buch „Die Wüste droht: Die gefährdete Nahrungsgrundlage der menschlichen Gesellschaft“ eine Analyse, die heute aktueller ist, denn je. Es ging um den „Kampf um die Wassernutzung“, die „Bodenvernichtung durch Erosion“ oder die „moderne Raubfischerei“. Begriffe, die heute nicht nur Wissenschaftler:innen bekannt sein dürften, sondern mittlerweile in jedem Fischratgeber bei Edeka zu finden sind.

Über 70 Jahre nach Metternichs Buch sind diese Geschehnisse allgegenwärtig – hier in Europa und anderswo auf der Welt. Seit Anfang des Jahres hat die Region Katalonien mit der Millionenstadt Barcelona offiziell den Wassernotstand ausgerufen: Die Stauseen sind leer. Seit drei Jahren herrscht dort die schwerste Dürreperiode seit Beginn der Aufzeichnungen.

„Notfall! Das Wasser fällt nicht vom Himmel“ prangt dort überall auf Plakaten. Während die Stadt ihr Wasser im April 2021 noch zu 63 Prozent aus Flüssen und zu 34 Prozent aus dem Grund bezog, sind es jetzt nur noch 19 beziehungsweise 23 Prozent. Wurden 2021 nur etwa 3 Prozent teuer in Entsalzungsanlagen hergestellt, sind es nun 33 Prozent. Statt 20 Cent pro Liter werden 70 Cent fällig. Und die Landwirt:innen? Sie müssen ihren Verbrauch um bis zu 80 Prozent einschränken.

Die Region Katalonien ist beileibe kein Einzelfall. Die Wälder vor unserer Haustür sind laut dem kürzlich veröffentlichten Waldzustandsbericht schwer krank. Über alle Baumarten hinweg hat sich der Anteil der gesunden Bäume seit 1984 halbiert. Nur einer von fünf Bäumen weist keine Schäden auf. Und die Prognose sieht derzeit nicht besser aus. Der menschenverursachte Klimawandel, die Vernichtung der Artenvielfalt und die Übernutzung unserer Ressourcen vereinigen sich zu einer ökologischen Apokalypse, die aus menschlicher Sicht in Zeitlupe abläuft, aber erdgeschichtlich gesehen einen Blitzeinschlag darstellt.

Der Deal mit dem ungarischen Diktator

Dass es keine Warnung gab, kann niemand ernsthaft behaupten. Metternich schrieb sein Buch keine zwei Jahre nach dem schrecklichsten Weltkrieg, den dieser Planet bis dato erlebt hat und in einer Zeit, in der Brennmaterialien Mangelware waren. Es gab weder Greenpeace, noch den Club of Rome, und erst recht keine ökologische Partei. Das hat sich in den letzten 80 Jahren geändert, weil die ökologischen Krisen immer sichtbarer werden und die wissenschaftlichen Erkenntnisse in geradezu atemberaubender Weise zugenommen haben. Mittlerweile erreichen uns fast täglich neue Daten zur Arten- und Klimakrise – zwei Krisen, die sich gegenseitig bedingen und verstärken.

Anders als viele Menschen glauben, äußern sich Wissenschaftler:innen im Allgemeinen extrem vorsichtig und zurückhaltend. Dass sie nun lautstark an die Öffentlichkeit treten, müssen wir als Alarmzeichen verstehen. Gerade erst riefen 200 polnische Wissenschaftler:innen Regierungschef Donald Tusk auf, das europäische Gesetz zur Rettung der Natur endlich zu unterstützen. Das Gesetz wäre die derzeit beste Möglichkeit, der Natur wieder Raum zu geben, unsere Lebensmittelproduktion nachhaltiger zu gestalten und Landwirt:innen nicht nur eine gute finanzielle Perspektive für den Arten- und Klimaschutz zu geben, sondern auch eine ökologische Perspektive. Denn sind fruchtbare Böden erodiert, wächst dort nichts mehr.

Doch der Appell verhallte im Nichts. Das Nature Restoration Law, das längst zwischen Europäischen Parlament und Rat verhandelt ist, verstaubt in den Schubladen des Umweltrates. Es fehlt die qualifizierte Mehrheit und damit droht es an der letzten Hürde zu scheitern.

Mitverantwortlich ist auch die Ratspräsidentschaft Belgiens. Ihre Rolle ist eigentlich, neutral zu vermitteln in den Verhandlungen zwischen den EU-Staaten. Doch stattdessen hat der belgische Premierminister Alexander De Croo einen schmutzigen Deal mit Ungarns Diktator Viktor Orbán eingefädelt. Der Grund? Die Bauernproteste im eigenen Land und anderen Teilen der EU – oder vielmehr die massive Lobbyarbeit der Agrarindustrie.

Die Agrarindustrie frohlockt, während wir alle verlieren

Wir erinnern uns: Anfang des Jahres kam es zu randaleartigen Protesten in Brüssel. Landwirt:innen durchbrachen Absperrungen mit Traktoren und zündeten mitten im europäischen Regierungsviertel Heuballen an. Auf Videos ist erkennbar, wie ein Polizist fast von einem Traktor überrollt wird. Seitens des europäischen Bauernverbands Copa Cogeca wurde flugs die Umweltpolitik für den Zorn der Bauern verantwortlich gemacht. De Croo zeigte sich als williger Helfer und verhinderte mit dem Ungarn-Deal eine Zustimmung für ein eigentlich verhandeltes Gesetz.

Damit handelte er entgegen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Ja, vielen Landwirt:innen geht es nicht gut, während es einigen wenigen wiederum prächtig geht. Das hat aber andere Gründe als den Arten- und Klimaschutz. Vielmehr liegt das Problem bei den massiven Subventionen für Agrargroßbetriebe. Wer viel Fläche hat, bekommt auch viel Geld.

Als Folge wird dadurch das „Wachse oder Weiche“-Prinzip verstärkt und lässt viele kleinere Höfe sterben. Das zeigt sich wie folgt: Agrarunternehmen mit über 100 Hektar Fläche machen nur 4 Prozent aller EU-Betriebe aus, bewirtschaften aber mittlerweile 52 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche. Insgesamt ging die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe zwischen 2005 und 2020 um 4,6 Millionen auf 9,1 Millionen zurück.

Wer bei diesem Wachstumsrennen nicht mitzieht, kann direkt einpacken. De Croo, aber auch sein polnischer Amtskollege Donald Tusk und ebenso die Europäische Kommission knicken hier ein. Das Gesetz zur Rettung der Natur wird damit zur Moorleiche. Obendrein hat die Kommission in den vergangenen Wochen im Eilverfahren Naturschutzstandards für die Landwirtschaft geschreddert. Die Agrarindustrie frohlockt, während die Arten- und die Klimakrise dadurch weiter angeheizt werden.

Noch haben wir die Wahl

Verlierer werden wir alle sein. Denn mit jedem Tag, den wir auf das EU-Renaturierungsgesetz warten oder weitere Klima- und Naturschutzstandards absenken, wird sich das Artensterben vor unserer Haustür verschärfen, wird es rascher und härtere Wasserkrisen geben oder wird es nur noch Böden geben, die ausgelaugt wenig bis gar keinen Ertrag und damit keine Nahrung mehr liefern.

All das muss uns eine Warnung sein. Denn ausgerechnet diejenigen, die sich „konservativ“ nennen und von der Bewahrung der Schöpfung reden, geben der Agrarindustrie einen Freifahrtschein. Und ausgerechnet die selbsternannten Patriot:innen der rechtsextremen Parteien sind es, die den menschenverursachten Klimawandel leugnen oder verharmlosen und das eigene Land in eine ungewisse Zukunft führen.

Sie alle drohen nun nach der Europawahl ein Bündnis einzugehen und Europas Green Deal, der unter anderem die Arten- und die Klimakrise lösen wollte, abzusägen. Es wäre fatal, unser aller Lebensgrundlage derart stark für die kurzfristigen Machtspielchen zu opfern. Doch noch haben wir die Wahl. Nutzen wir sie.

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