Standpunkte Armutszeugnis für den Rechtsstaat

Wenn es um die vermeintliche Wettbewerbsfähigkeit wichtiger Industrien geht, herrscht in Deutschland Merkantilismus statt Rechtsstaat. Bestes Beispiel: der Umgang mit Betrügereien beim Diesel. Konsequente Sanktionen hingegen würden das Image von „Made in Germany“ sogar verbessern.

von Dr. Andreas Troge

veröffentlicht am 11.05.2018

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Geht es Ihnen auch manchmal so? Sie hören von Gesetzen, die unser Verhalten und Zusammenleben bestimmen sollten, bis diese Gesetze der Deutsche Bundestag und der Bundesrat verabschiedet haben. Und danach? Befolgen wir Bürgerinnen und Bürger diese Gesetze, und was haben die Gesetze gebracht?


Klar, nach üblichem Verständnis hält sich jede und jeder an die Gesetze – immer  vorausgesetzt, diese sind bekannt und verständlich für (fast) alle. Trotzdem: Der Exekutive, also den Behörden, z. B. der Polizei, obliegt es, dafür zu sorgen, dass dieses im Allgemeinen stimmt, indem sie Kontrollen durchführt und Verstöße sanktioniert. Das ist für die Rechtstreue und damit das friedliche Zusammenleben wichtig: Denn für die Einzelnen ist es aufwendig und vor allen Dingen manchmal riskant, gegenüber anderen auf die Befolgung der Gesetze zu dringen. Wer spricht schon als Älterer einen jungen, kräftigen Mann an, er möge auf dem Bahnsteig das Rauchverbot befolgen und die Zigarettenkippe nicht achtlos auf den Bahnsteig oder zwischen die Gleise werfen – denn das sei eine bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit? Und wer traut sich, einen kampfbereit aussehenden Mann mit einem gefährlich aussehenden Hund auf den Leinenzwang hinzuweisen? Weil die wechselseitige Kontrolle der Rechtsunterworfenen zuweilen riskant ist, braucht die Gesellschaft den Staat, um Repression bei Fehlverhalten zu veranlassen.


Leider funktioniert das heutzutage in Deutschland – folgt man Berichten in den Massenmedien – nur unzureichend: Beispielsweise ist es auffällig, dass die Ordnungsämter in Berlin den Leinenzwang für Hunde in geschützten Grünanlagen nur in den ersten Monaten überhaupt wirksam kontrollierten, danach nur in unauffälligen, gelegentlichen Stichproben. Und das vorwiegend bei älteren Herrschaften, weniger gegenüber jungen, kräftigen Männern, schon gar nicht, sobald diese in Rudeln mit gefährlich erscheinenden Hunden auftraten.


Durchsetzung auf eigenes Risiko


Ich glaube, die Botschaft solcher Vollzugsdefizite ist bereits im Kleinen: Liebe Bürgerschaft, wir als Gesetzgeber haben etwas beschlossen, was Euer Leben besser macht. Aber mit dem Gesetzesbeschluss fällt für uns der Vorhang. Was daraus wirklich wird, liegt in Eurer Hand, ihr könnt Euch auf das Gesetz berufen, was dessen Durchsetzung angeht, freilich häufig auf eigenes Risiko. Denken vielleicht Bürgerinnen und Bürger: Wir fühlen uns im Alltag allein gelassen, wozu brauchen wir diesen Staat, wenn er uns nicht hilft, unsere und damit seine eigenen Gesetze zu befolgen? Und könnte das zur so genannten Politikverdrossenheit ein gerüttelt Maß beitragen? Ich meine: Ja!


Aber es kommt noch schlimmer, denn der Staat ist kein Neutrum, welches Gesetze beschließt und neutral über deren Einhaltung wacht. Nein: Er verfolgt eigene – im weiteren Sinne merkantilistische – Zwecke: Anders als zu Zeiten Ludwig XIV. und seines Finanzministers Colbert heißt ein wichtiger Zweck heute nicht „Mehrung des Reichtums des Herrschers“, auch, damit dieser seine Günstlinge auskömmlich zwecks Machterhalt zu korrumpieren vermag, sondern „Erhaltung der Arbeitsplätze“, speziell solcher, die heute das international wettbewerbsfähige Deutschland im besonderen Maße auszeichnen. So will die Exekutive für viele deren wirtschaftlichen Status erhalten und verbessern.


Das ist ja an sich gut. Es wird aber konfliktreich, falls auch nur behauptet würde, dieses oder jenes Gesetz mindere die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher (besser: in Deutschland viel Beschäftigung schaffender) Unternehmen: Dann bleiben dem – beschäftigungspolitisch befangenen – Staat zwei Möglichkeiten: Entweder verzichtet er auf Gesetze, die nennenswerte kurzfristige Minderungen der Beschäftigung riskieren oder er beschließt diese dennoch, freilich um den Preis, den Vollzug an der „langen Leine“ laufen zu lassen; denn es geht ja um die Beschäftigung, und damit auch um jene Gewinne, die im Inland im Vergleich zum Ausland erzielbar sind. Zugestanden: Es gibt noch eine Möglichkeit dazwischen: nämlich Gesetze zu beschließen, die hohe Anforderungen an die Rechtsunterworfenen formulieren, aber in den Details diesen vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen, ohne dass die Exekutive hiervon etwas wissen will.


Problem Zulassung von Kraftfahrzeugen


Solches gewollte Nichtwissen der Vollzugsbehörden äußert sich nicht nur in den oben beschriebenen (vermeintlichen) Kleinigkeiten. Wichtiger erscheint mir noch die – in Deutschland – völlig mangelhafte Marktüberwachung dafür, ob gesetzliche Vorschriften für Produkte im Allgemeinen auch eingehalten werden. Ein aktuelles Beispiel: Denken Sie an die Vorgaben des EU-Rechts für die Zulassung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich ihres Schadstoffausstoßes – speziell des gesundheitsschädlichen Stickstoffdioxids und des klimaschädlichen Kohlendioxids. Da betrügen die Automobilhersteller aus meiner Sicht routinehaft, indem sie Abschalteinrichtungen für die Stickstoffdioxidminderung einbauen, diese aber bei der Typzulassung nicht angeben und Treibstoffverbräuche aus einem unrealistischen Fahrzyklus auf dem Rollenprüfstand zur Aussage in ihren Werbeanzeigen machen.


Freilich: Das alles dient kurzfristig dem „Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit“ und den aktuellen Arbeitsplätzen in der deutschen Automobilindustrie. Aber dient es der Gesundheit der Menschen und dem Klimaschutz? Ich glaube nicht. Mehr noch: Wer zukünftig seine Fahrzeuge weltweit mit Erfolg absetzen will, wird auch hinsichtlich Gesundheitsschutz und Klimaschutz eher Avantgarde denn Gralshüter sein müssen – zugunsten der Beschäftigung in Deutschland und Europa morgen und übermorgen.


Was mich als Staatsbürger – und hoffentlich auch Sie – grundlegend berührt, ist folgender Sachverhalt: Wir fühlen uns vom Recht – dem privaten, z. B. Kauf- oder Erbrecht, sicher geleitet. Wir wissen also, was wir dürfen und was nicht. Und zwar mit staatlicher, recht strikter Überwachung. Gut so, Klarheit zu haben. Aber wir fühlen uns allein gelassen, sobald spezielle wirtschaftliche Interessen und die des Staates am Erhalt konkreter Arbeitsplätze in bestimmten Branchen Hand in Hand gehen: Hier wird Recht aufgeweicht und zwar durch Detailregelungen, die dem einzelnen Bürger und der Bürgerin überhaupt nicht zugänglich sind und sein können. Entziehen sich solche Regelungen nicht nur bürgerschaftlicher Kontrolle, sondern wird ihnen auch noch ein Schadensersatz (wie beim Betrug der Automobilhersteller mit verbotenen Abschalteinrichtungen für die Reinigung der Stickstoffabgase) verwehrt, so erschüttert dieses das Vertrauen in staatlich gesetzte Regeln, und zwar generell.


Umwelthilfe muss Vollzugsdefizite aufdecken


Meine Schlussfolgerung: Der neue Merkantilismus – die kurzfristige Gewinn- und damit Beschäftigungssicherung als Staatsaufgabe – gehört zugunsten von mehr Rechtstreue aller zurückgenommen, um Gesundheitsschutz und Klimaschutz wirklich durchzusetzen, zumal diese Teil unseres Wohlstandes sind. Zudem bieten sich zukünftige Beschäftigungschancen. Wiedergutmachung eines betrügerisch entstandenen Schadens (Nachrüstung der Kfz, um die erlaubten Grenzwerte einzuhalten oder Entschädigung der betroffenen Autohalter), zehrt zwar kurzfristig an Gewinnen, verschlechtert aber nicht dauerhaft die hiesige Standortqualität. Im Gegenteil: Mit der Haftung für Fehlverhalten würde „Made in Germany“ Ansehen gewinnen.


Beim Armutszeugnis des Rechtsstaates, dass private Umwelt- und Verbraucherschutzorganisationen – wie im Falle Diesel-Pkw die Deutsche Umwelthilfe – eklatante staatliche Vollzugsdefizite aufdecken müssen, darf es nicht bleiben. Sonst steht das Vertrauen in den Rechtsstaat auf dem Spiel.

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