Standpunkte Der Emissionshandel in der Europäischen Union funktioniert

Trotzdem kann er nicht seine volle Wirkung entfalten, argumentiert der Leiter der Deutschen Emissionshandelsstelle Michael Angrik in seinem Standpunkt. Woran das liegt, und warum er trotzdem hoffnungsfroh ist.

von Michael Angrik

veröffentlicht am 08.06.2017

aktualisiert am 16.11.2018

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Der EU-ETS ist in Europa das umfassendste Klimaschutzinstrument, das rund 45 Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen der Europäischen Union (EU) erfasst. Gegenwärtig steht der EU-ETS allerdings vor großen Herausforderungen. Er kann seine zentrale Rolle als klimapolitisches Leitinstrument derzeit nicht zufriedenstellend erfüllen: Marktüberschüsse drücken bereits über einen langen Zeitraum den Preis für Emissionsberechtigungen und schwächen die Anreizwirkung des EU-ETS. Gleichwohl bekräftigten die Beschlüsse des Europäischen Rats vom 24. Oktober 2014 zur Klima- und Energiepolitik der EU bis 2030 den Anspruch, dass ein funktionierender Emissionshandel das Kerninstrument für die Erreichung der europäischen Treibhausgasziele sein soll.


Hauptursache für die derzeitige Lage im EU-ETS sind die zu wenig ambitionierten Emissionsobergrenzen (Caps) der zurückliegenden zweiten und der laufenden dritten Handelsperiode. Im Jahr 2014 lagen die Emissionen im EU-ETS mit rund 1,8 Milliarden Tonnen bereits unterhalb des Caps für das Jahr 2020. Die europäischen Minderungsziele in den ETS-Sektoren für das Jahr 2020 wurden demnach schon sechs Jahre früher erreicht, als durch das Cap angelegt. Neben den wenig ambitionierten Caps in Verbindung mit der umfänglichen Nutzung von internationalen Projektgutschriften ist das starre und wenig flexible Angebot an Emissionsberechtigungen eine zweite wesentliche Ursache für die aktuelle Situation. Die Emissionsrückgänge in Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise zeigen beispielhaft, dass der EU-ETS in seiner derzeitigen Ausgestaltung erhebliche Defizite in Hinblick auf seine Robustheit gegenüber strukturellen, also starken und gleichzeitig nachhaltig anhaltenden Nachfrageänderungen aufweist.


Immer mehr Regierungen denken über eigene Instrumente nach


Angesichts des schwachen Preissignals aus dem EU-ETS planen gegenwärtig einige Mitgliedstaaten der EU, zusätzliche nationale klima- oder energiepolitische Instrumente einzuführen oder haben dies bereits getan, um so ihre nationalen Klimaschutzziele zu erreichen oder gezielt die Dekarbonisierung ihrer Stromerzeugung voranzutreiben. Diese zusätzlichen Emissionsminderungsmaßnahmen können allerdings zu Verlagerungseffekten innerhalb des EU-ETS führen und dessen Preissignal weiter schwächen, wenn das Angebot an Emissionsberechtigungen nicht entsprechend reduziert wird.


Die Marktstabilitätsreserve soll das System repapieren


Mit dem Beschluss zur Einführung einer europäischen Marktstabilitätsreserve (MSR) wird ab 2019 erstmals die Möglichkeit zum regelbasierten Nachjustieren der Angebotsmenge innerhalb einer Handelsperiode und darüber hinaus geschaffen. Damit ist ein notwendiger erster Schritt zur strukturellen Weiterentwicklung des EU-ETS getan. Die MSR kann in ihrer derzeitigen Ausgestaltung aber keinesfalls die mangelnde Stringenz der europäischen Energie- und Klimapolitik beheben. Das Problem des stetigen, also strukturellen Auseinanderdriftens zwischen ETS-Cap (Angebot) und den tatsächlichen Emissionen der Energie- und Industrieanlagen (Nachfrage) wird durch die MSR allein nicht gelöst. Daher müssen Ansätze entwickelt werden, die die Kompatibilität des EU-ETS mit den ergänzenden energie- und klimapolitischen Maßnahmen künftig deutlich erhöhen. Dies ist nach Auffassung des Umweltbundesamtes eine der vordringlichen Aufgaben für die europäische Klimaschutzpolitik.


Diese muss im Kontext des Paris-Abkommens und des vereinbarten Ziels, den Temperaturanstieg auf deutlich unter zwei Grad zu begrenzen sowie der derzeitigen amerikanischen Politik neu bewertet werden. Das Umweltbundesamt setzt sich insbesondere dafür ein, dass die deutschen Treibhausgasemissionen bis 2050 um 95 Prozent reduziert werden und auch die EU ihre Wirtschaftsweise in diesem Zeitraum weitgehend dekarbonisiert.


Was tun?


Unabhängig von den derzeit laufenden Trilog-Verhandlungen zwischen EU-Parlament, Ministerrat und Kommission empfehle ich die folgenden Punkte für die Weiterentwicklung des Instruments nicht außer Acht zulassen:


  1. Zyklus zur Festlegung des ETS-Caps auf fünf Jahre verkürzen und an einem ambitionierten langfristigen Minderungspfad ausrichten


Der Cap-Zyklus im EU-ETS muss analog zu den geplanten zwei Zuteilungsperioden in der vierten Handelsperiode auf fünf Jahre verkürzt werden, um die Stringenz des Caps bei sich ändernden Rahmenbedingungen erhalten oder erhöhen zu können. Dies erfordert schon der völkerrechtlich verbindliche fünfjährige Ambitionssteigerungsmechanismus des Paris-Abkommens. Hierbei gilt zudem, dass das Cap mit dem langfristigen Ziel einer weitgehenden Dekarbonisierung der EU bis 2050 in Einklang stehen muss. Der aktuell von der Kommission vorgeschlagene Minderungspfad von 2,2 Prozent für die jährliche Kürzung des Caps reicht hierfür nicht aus. Das UBA empfiehlt für den Zeitraum 2021 bis 2025 zunächst eine Erhöhung des linearen Kürzungsfaktors (LKF) auf mindestens 2,6 Prozent. Dies würde bis 2050 zu einer Minderung der ETS-Emissionen um rund 96 Prozent gegenüber 2005 führen.


  1. Stringenz des ETS-Caps für die vierte Handelsperiode im Hinblick auf das energie- und klimapolitische Instrumentarium überprüfen


Das Cap für die vierte Handelsperiode sollte grundsätzlich auf Basis einer aktualisierten Bestandsaufnahme durch die Europäische Kommission abgeleitet werden. Hierzu ist es erforderlich, dass die Angemessenheit des Cap-Niveaus vor dem Hintergrund der bekannten energie- und klimapolitischen Instrumente überprüft und mit aktuellen Emissionsprojektionen abgeglichen wird. Denn das Cap muss neben der Vereinbarkeit mit einem ambitionierten langfristigen Klimaschutzziel der EU auch die strukturelle Knappheit im EU-ETS herstellen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Europäische Rat im Oktober 2014 ausdrücklich eine Übererfüllung des gesamtwirtschaftlichen Minderungsziels (mindestens minus 40 Prozent bis 2030 gegenüber 1990) vorgesehen hat. Eine weitere Senkung des Caps wäre dadurch also gerechtfertigt. Die notwendige, aktuelle Bestandsaufnahme steht allerdings aus und kann kurzfristig bis zum Ende der europäischen Abstimmungsverfahren für die ETS-RL nicht mehr nachgeholt werden. Auch aus diesem Grund muss die novellierte ETS-RL spätere Anpassungsmöglichkeiten für das Cap vorsehen.


  1. Interaktion energie- und klimapolitischer Maßnahmen mit dem EU-ETS stärker überwachen


Die emissionsmindernde Wirkung komplementärer Klima- und Energiepolitiken – auf der nationalen wie auch auf der europäischen Ebene – muss sorgfältiger als bisher quantifiziert und bei der Definition des ETS-Cap berücksichtigt werden: Das ETS-Cap darf nicht höher sein als die nach Umsetzung der komplementären Politiken erwarteten (projektierten) Emissionen, sondern muss darunter liegen. Hierfür sollte die Europäische Kommission regelmäßig Bestandsaufnahmen durchführen und bewerten.


  1. Ansätze zu Angebotsverknappung im EU-ETS bei ergänzenden nationalen Maßnahmen für Treibhausgas-Minderungen schaffen


Die durch ergänzende nationale Politikmaßnahmen ausgelösten Emissions- bzw. Nachfragerückgänge im EU-ETS müssen von den Mitgliedstaaten im Gegenzug durch Angebotskürzungen im EU-ETS ausgeglichen werden können (zum Beispiel Verknappungen bei Versteigerungen), wenn sie im gesamteuropäischen Cap noch nicht berücksichtigt wurden.


  1. Überschüsse aus der zweiten und dritten Handelsperiode dauerhaft löschen


Die im Zeitraum 2008 bis 2020 auflaufenden Überschüsse im EU-ETS (voraussichtlich mehr als drei Milliarden Berechtigungen) müssen größtenteils gelöscht werden. Nur so kann verhindert werden, dass zu großzügige und unzureichend mit komplementären Politiken abgestimmte Caps die künftige Lenkungswirkung des EU-ETS beeinträchtigen und gleichzeitig die Glaubwürdigkeit der europäischen Klimapolitik im Rahmen des Paris-Abkommens gefährden. Denn diese Überschüsse werden zu großen Teilen in die MSR überführt und können dem Kohlenstoffmarkt damit zukünftig wieder zugänglich gemacht werden. Gleichwohl ist eine geringe Überschussmenge als Liquiditätspuffer im System funktional sinnvoll.


Mit der Umsetzung dieser Vorschläge lässt sich die Funktion des Emissionshandels als eingeführtes und von allen europäischen Mitgliedstaaten akzeptiertes Klimaschutzinstrument langfristig sichern. Unter diesen Voraussetzungen kann der Emissionshandel seiner Rolle gerecht werden und einen maßgeblichen Beitrag für wirkungsvollen Klimaschutz in Deutschland und Europa leisten.


Michael Angrick leitet seit 2015 die Deutsche Emissionshandelsstelle beim Umweltbundesamt.

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