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Standpunkte Der Koalitionsvertrag: Mehr als nur ein Wunschzettel?

Über eine Jamaika-Koalition wird derzeit noch gestritten, am Ende der Verhandlungen steht bei Erfolg ein Koalitionsvertrag. Doch der hat keine rechtlich bindende Funktion – aus gutem Grund, wie Ines Zenke von der Energierechtskanzlei BBH schreibt.

von Ines Zenke

veröffentlicht am 06.11.2017

aktualisiert am 14.11.2018

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Sie streiten, verkünden, nehmen zurück, twittern ein bisschen, rügen und loben einander und finden sich zum nächsten Termin mit „bitte ein bisschen mehr Disziplin“. Sie wissen, worüber ich rede, meine Damen und Herren, natürlich. Die Gespräche um die Bildung der „Jamaika“-Koalition sind in vollem Gange und beherrschen die Medien.


Im Großen und Ganzen war zu erwarten, dass es nicht einfach werden wird, ein Bündnis zwischen den Unionsparteien CDU/CSU, der Freien Demokratischen Partei, FDP, und Bündnis 90/Die Grünen zu schmieden. Zu weit sind die Positionen betreffend Zuwanderung, Europa oder bei der Frage nach dem richtigen Brennstoff, dem effektiven Klimaschutz auseinander. Die Brücken, die geschlagen werden müss(t)en, sind lang. Ob es gelingen wird, werden wir sehen. Ein für uns sichtbares Bauwerk wäre ein Koalitionsvertrag, geschlossen zwischen den vier Akteuren. Er würde die Leitlinien der politischen Arbeit in der laufenden Legislaturperiode, die Ziele und Inhalte der gemeinsamen Regierungsarbeit festschreiben.


Die Erfahrung zeigt, dass Koalitionsverträge echte Details, konkrete Gesetzesvorhaben und klare Regelungsüberlegungen enthalten können. Weil dies so ist, erhalten die Akteure jetzt viele Hinweise aus der Bevölkerung und Wirtschaft, was drin stehen sollte, in so einem Koalitionsvertrag, und was bitte möglichst nicht. All dies bringt uns (mindestens aber die Juristin in mir) zu der Frage, wie verbindlich so ein Koalitionsvertrag eigentlich ist. Und wenn er verbindlich wäre, könnte dann das, was uns gut passt in diesem Vertragswerk, von uns bzw. Ihnen eingeklagt werden? Ist der Koalitionsvertrag also ein Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter (ein sogenannter VSD), der Ihnen oder anderen aufmerksamen Lesern des Textes einen eigenen vertraglichen Anspruch auf Umsetzung des für gut befundenen Inhaltes des Koalitionsvertrages verschaffen kann?


Träumen Sie weiter, verehrter Leser.


Es scheitert schon an der allerersten Voraussetzung Ihres eigenen vertraglichen Anspruches – einem rechtlich bindenden Vertrag. Der Koalitionsvertrag heißt zwar so. Allerdings hat er zum herkömmlichen Kauf-, Miet- oder zum Beispiel Dienstleistungsvertrag einen entscheidenden Unterschied. Er beinhaltet zwar Rechte und Pflichten. Einklagbar ist aber keine seiner Aussagen. Wenn dies so ist, wozu gibt es dann überhaupt einen Koalitionsvertrag? Hier müssen wir ein bisschen ausholen.


Der Koalitionsvertrag legt auch Verfahrensregeln fest


Damit Dr. Angela Merkel zum Beispiel Bundeskanzlerin werden kann, benötigt sie die Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages (Artikel 63 Abs. 2 Grundgesetz). Diese absolute Mehrheit bedeutet nach Artikel 121 des Grundgesetzes die Mehrheit seiner gesetzlichen Mitgliederzahl, also der im Bundestag heute vertretenen 709 Abgeordneten. Diese erreicht sie mit den 246 Stimmen der CDU/CSU erkennbar nicht. Sie benötigt für ihre Wiederwahl die Stimmen weiterer Abgeordneter, gebündelt in einer weiteren Fraktion oder eben – wie bei den Jamaika-Gesprächen – in zwei weiteren Fraktionen. Dies war übrigens fast immer so. Nur in der Legislaturperiode 1957-1961 musste der werdende Kanzler mit niemandem sprechen; hier konnte (s)eine Fraktion die Kanzler-Mehrheit stellen.


Die absolute Mehrheit gibt es im Bundestag natürlich nicht einfach so. Wenn die größte Fraktion schon die Bundeskanzlerin/den Bundeskanzler stellt, zum Beispiel eben Frau Dr. Angela Merkel, hat diese eine Menge Einfluss: Der Bundeskanzler stellt mit den Bundesministern die Bundesregierung (Artikel 62 Grundgesetz) und darf über die Ernennung und Entlassung der Minister entscheiden (Artikel 64 Grundgesetz). Der Bundeskanzler kann die Vertrauensfrage stellen (über Artikel 67 oder etwas innovativer – Kanzler Kohl 1982, Kanzler Schröder 2005 – über Artikel 68 Grundgesetz) und mit der drohenden Alternative der Auflösung des Parlaments die Koalitionsfraktionen disziplinieren. Weiter bestimmt der Bundeskanzler nach dem sogenannten Kanzlerprinzip die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung (Art. 65 Grundgesetz). All dies gilt natürlich auch für eine Bundeskanzlerin, auch wenn der Wortlaut des deutschen Grundgesetzes die weibliche Variante von „Kanzler“ gar nicht kennt, worüber wir hier sach- und fachgerecht einfach hinwegsehen können.


Angesichts dieses Einflusses der Bundeskanzler*Innen und auch angesichts des bekannten Faktes, dass innerhalb der Bundesregierung, also im Kabinett, im Streitfalle das Mehrheitsprinzip gilt, hat die kleinere Fraktion, die der Kanzlerin Merkel zur Kanzlerschaft verhilft, ein Interesse daran, ihre Bedingungen für die Zusammenarbeit niederzulegen und ihr politisches Durchsetzungsvermögen abzusichern. Sie möchte im Kabinett nicht überstimmt werden.


In einen Koalitionsvertrag gehören daher alle Bedingungen, nach denen die Unterzeichner bereit sind, eine gemeinsame Koalition zu bilden. Dies meint zum einen sachliche Punkte zu Zielen und Inhalten der gemeinsam geplanten Politik. Zum anderen meint dies aber auch personelle Aspekte, weswegen jede Kritik „Das-ist-ja-eh-nur-Pöstchen-Schacherei“ zu kurz greift. Den eigenen Einfluss abzusichern, heißt, auch über eben diese Ministerposten, Ressorts und Ministeriumsverteilung zu reden. Dies kann konkrete Namen meinen oder aber „nur“ die Festlegung, welche Partei die Leitung welchen Ressorts benennen darf.


Damit der schließlich gefundene Kompromiss Wirklichkeit wird, verabreden die Koalitionäre zudem Verfahrensregeln. Diese beschreiben das Zusammenwirken in Bundeskabinett und Bundestag und auch Mechanismen für den Fall, dass sich die Koalitionspartner in einer Sache doch uneinig sind. Nach diesen Spielregeln zum Beispiel müssen die Koalitionspartner im Bundestag einheitlich abstimmen. Im Bundeskabinett darf der Koalitionspartner (regelmäßig in Fragen von grundsätzlicher Bedeutung) nicht überstimmt werden. Außerdem wird ein sogenannter Koalitionsausschuss eingerichtet, der in einem bestimmten Turnus oder ad hoc tagt, berät und im Streitfall Konsens schafft. Besetzt wird er mit Regierungs-, Fraktions- und Parteivertretern, also in der Praxis mit solchen Damen und Herren, von denen man hofft, dass sie ihre Seite überzeugend vertreten und dann das gefundene Ergebnis qua Autorität in den eigenen offiziellen Entscheidungsgremien durchzusetzen vermögen. Das Grundgesetz kennt den Koalitionsausschuss nicht, was zu manchem Stirnrunzeln über seinen Einfluss als erfolgreiches, aber doch irgendwie „freies Radikal“ ohne Berichtspflicht gegenüber dem Parlament geführt hat.


Dass Koalitionsverträge jederzeit und einvernehmlich abgeändert werden können, überrascht Sie sicherlich nicht mehr, nachdem Sie nun bereits wissen, dass die Festlegungen im Koalitionsvertrag auch von Ihnen nicht einklagbar sind.


Das Verfassungsgericht ist nicht zuständig


Nur der Jurist denkt in Kategorien der Einklagbarkeit, meinen Sie? Es geht doch erst einmal darum, ob der Koalitionsvertrag wirksam ist? Richtig. Weil „wirksam“ immer aber auch „durchsetzbar“ bedeutet, ist letzteres doch entscheidend: Haben Sie sich vielleicht damals schon darüber geärgert, dass US-Präsident Bush das Kyoto-Protokoll unterschrieben hat und danach nichts mehr von den unterzeichneten Versprechen in Sachen Klimaschutz wissen wollte? Hier gibt es gewisse Parallelen. Hier wie dort sehen wir die Grenzen des Rechts. Völkerrecht (wie das Kyoto-Protokoll) und der Koalitionsvertrag sind nicht justitiabel. Es gibt einfach kein Gericht und keine vergleichbare Instanz, die sich mit ihnen und ihrer Durchsetzung beschäftigen (können).


Sie wollen das genauer wissen? Bitte sehr! Einem Koalitionsvertrag kommt ein sogenannter verfassungsrechtlicher Charakter zu. Immerhin verabredet er politische Ziele und ihre Umsetzung durch Staatsorgane. (Siehe auch die vielen Verweise in das Grundgesetz, mit denen Sie hier schon versorgt wurden.) Damit könnte man im Streitfall natürlich gleich an das Bundesverfassungsgericht denken. In dessen Zuständigkeitskatalog ist ein Streitgegenstand „Koalitionsvertrag“ schlicht und ergreifend nicht vorgesehen. Der noch so geneigte Verfassungsrichter darf also einfach nicht tätig werden. Andere Richter aber auch nicht. Weil der Koalitionsvertrag eben verfassungsrechtlicher Natur ist, kann weder ein Zivilgericht handeln (nimmt nur privatrechtliche Streitigkeiten) noch ein Verwaltungsgericht (nimmt nur öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Natur). Auch der Gang zu den Strafrichtern ist – selbst wenn Sie einen Vertragsbruch mit der Aufrichtigkeit eines ehrbaren Kaufmannes als kriminell einstufen würden – weg. Eine strafrechtlich verfolgbare Tat „Bruch der Koalitionsabrede“ gibt es im Strafgesetzbuch nicht. Dass Arbeitsgerichte, Finanzgerichte und Sozialgerichte mit der Sache nichts zu tun haben, muss hier sicher nicht weiter erläutert werden. Kurzum: Die gegenseitigen Versprechen aus dem Koalitionsvertrag sind mangels zuständiger Stelle vor keinem Gericht einklagbar. Vollstreckbar dann auch nicht; denn es fehlt an der Voraussetzung des anordnenden Titels eines Richters. Tja.


Schlussendlich ist dieses Ergebnis aber auch richtig. Denn bedenken Sie bitte noch Folgendes: Die Abgeordneten des deutschen Bundestages sind – da ist es wieder – nach deutschem Grundgesetz „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“, Artikel 38 Absatz 1, Satz 2 Grundgesetz. Wie könnte man da auch nur ansatzweise glauben, dass ein Koalitionsvertrag einklagbar oder gar gegenüber dem freien Parlamentarier vollstreckbar wäre? Unter diesem Blickwinkel kann der Koalitionsvertrag nur eine bloße Absichtserklärung sein, mit der die Unterzeichner versuchen, die Mitglieder des deutschen Bundestages und ihrer Fraktion zur Wahl eines Kanzlers, zur Unterstützung der Regierung usw. zu bewegen. Das freie Mandat des Abgeordneten verbietet jegliche Garantie darüber, dass die Worte des Koalitionsvertrages  umgesetzt werden.


Die bindende Wirkung des Vertrags ist politisch


Heißt all dies grundgesetzliche Grundsätzliche nun, dass der Koalitionsvertrag die Tinte nicht wert ist, mit der er geschrieben wurde? So ist das nun auch wieder nicht.


Zum einen gibt es die im Alltag bewährte Fraktionsdisziplin, die die Abgeordneten des Bundestages als durchaus hilfreich und sinnvoll empfinden. Man vertraut auf die Sachkenntnis in der Fraktion und erkennt, dass die verabredeten und bestenfalls optimal verhandelten Inhalte aus dem Koalitionsvertrag nur im Fraktionsverbund durchzusetzen sind. Auch diejenigen, die der Abgeordnete schlecht findet. Er wird sich also in der Regel an den Koalitionsvertrag halten.


Zum anderen aber kann die politische Wirkung eines Verstoßes gegen einen Koalitionsvertrag immens sein. Keiner der Koalitionspartner wird sich freiwillig wortbrüchig oder politisch unzuverlässig zeigen wollen – zumal immer auch die Gefahr mitschwingt (siehe zum Beispiel oben, zur Vertrauensfrage des Kanzlers/der Kanzlerin), die Regierungsverantwortung zu verlieren. Das ist dann wie in dem Ihnen möglicherweise bekannten § 762 Absatz 1, Satz 1 BGB: Durch Spiel oder Wette wird eine Verbindlichkeit nicht begründet. Gleichwohl sind Spiel- wie Wettschulden Ehrenschulden und genau deswegen nicht ohne Belang.

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