Standpunkte Der verzerrte Strommarkt

Standpunkt von Ingrid Nestle, Sprecherin für Energiewirtschaft der Grünen-Fraktion im Bundestag
Standpunkt von Ingrid Nestle, Sprecherin für Energiewirtschaft der Grünen-Fraktion im Bundestag

Die einheitliche deutsche Strompreiszone wird zum nächsten Konfliktgebiet der Energiewende. Ingrid Nestle, Sprecherin für Energiewirtschaft der Grünen im Bundestag, vertritt in ihrem Standpunkt die Ansicht, dass der Preis für ihren Erhalt zu hoch geworden ist. Es drohten spürbare Mehrbelastungen der Stromkunden, widersinnige Stromflüsse an den Grenzen und höhere CO2-Emissionen, weil erneuerbare Energien abgeschaltet werden müssen. Die erneuerbaren dürften nicht zum Sündenbock gemacht werden.

von Ingrid Nestle

veröffentlicht am 23.07.2018

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Anscheinend hofft die Bundesregierung, dass keiner etwas merkt. Niemand soll mitbekommen, dass wieder einmal den Erneuerbaren die Schuld gegeben wird, wenn die Regierung nicht in der Lage ist, den Strommarkt vernünftig zu organisieren.


Dabei hat es ganz harmlos angefangen: Der Europäische Energiebinnenmarkt ist ein Erfolgsprojekt. Und auch die einheitliche Strompreiszone in Deutschland hat viele Vorteile. Derzeit aber scheint der gesunde Menschenverstand auf der Strecke zu bleiben beim Versuch, beide auf Biegen und Brechen zu vereinen – gegen die physikalischen Gegebenheiten.


Im Ringen um das Clean Energy Package der EU pocht die Kommission auf den Binnenmarkt, also für den Stromhandel offene Grenzen, die deutsche Regierung auf die einheitliche Preiszone für nord- und süddeutschen Strom. Geeinigt hat man sich darauf, dass die Grenzkuppelstellen – anders als in der Vergangenheit – zumindest zu 75 Prozent geöffnet werden, sich an der einheitlichen Preiszone aber nichts ändert. So haben beide Seiten ihren Willen bekommen – obwohl beides zusammen zu physikalisch unmöglichen Ergebnissen führt. Physikalisch liegt nämlich in Deutschland ein Netzengpass vor.


Werden die Grenzkuppelstellen künftig wie vereinbart geöffnet, bedeutet dies, dass beispielsweise dänische Kraftwerke ihren Strom nach München verkaufen können, obwohl er dort gar nicht ankommt. Das hat verschiedene Folgen: Zunächst muss auf Kosten der Stromkunden das verzerrte Marktergebnis der Wirklichkeit angepasst werden, um den Blackout zu verhindern. Das bedeutet in unserem Beispiel, dass die Netzbetreiber Strom in Dänemark verkaufen und in räumlicher Nähe zu München zukaufen müssen – zu deutlichen Mehrkosten.


Es hat auch zur Folge, dass nebenbei und ohne Diskussion der Einspeisevorrang der Erneuerbaren dem Binnenmarkt untergeordnet wird. Bisher wurde der grenzüberschreitende Handel nur zugelassen, wenn dadurch kein erneuerbarer Strom in Deutschland abgeregelt worden wäre. Künftig wird der Binnenmarkt auch dann durchgesetzt, wenn dies Abschaltungen von Windmühlen hervorruft.


Denn wenn die erzwungenen Ausgleichsgeschäfte nicht reichen, die selbstgeschaffene Misere aufzulösen, dann werden die Windräder in Schleswig-Holstein eben angehalten, um beliebigen Strom aus Skandinavien zu importieren. Das kann dann auch Kohlestrom sein oder wertvoller speicherbarer Wasserstrom. Ökologisch wie ökonomisch ist dies offensichtlicher Unsinn, da der Windstrom bei der Produktion keine variablen Kosten und kein zusätzliches CO2 verursacht hätte.


Bemerkenswert ist, dass die Bundesregierung vor dieser weitreichenden Entscheidung keine Kosten-Nutzen-Analyse angefertigt hat: Jedenfalls antwortete das Ministerium auf eine entsprechende Anfrage nur mit einer Aufzählung der Vorteile einer einheitlichen Preiszone und konnte keinerlei Zahlen zu den Kosten der neuen 75-Prozent-Regelung vorlegen.


Solange Preiszonen den tatsächlichen Preis in der Region widerspiegeln, führt eine Grenzöffnung zu Wohlstandsgewinnen auf beiden Seiten. Der Markt ist eine sehr wirkungsvolle Art der Steuerung und genießt deshalb zurecht hohes Ansehen. Gaukelt man aber dem Markt Rahmenbedingungen vor, die in der Realität nicht existieren, so richtet sich seine Stärke in die falsche Richtung. Durch den Engpass im Stromnetz spiegelt der gezahlte Preis an der Grenze den wirklichen Bedarf an Strom in der Region nicht wider.


Die Kosten der neuen Regelung werden auftauchen im Block der Redispatch-Kosten, für die schon heute zu Unrecht den Erneuerbaren die Schuld gegeben wird. Es sind die Gelder für die Abregelung konventioneller Kraftwerke vor dem Netzengpass und entsprechender Gegenmaßnahmen hinter dem Netzengpass. Sie werden gezahlt wegen zu hoher fossiler Kapazitäten im Norden, die in der einheitlichen Strompreiszone auch dann ihren Strom verkaufen dürfen, wenn er gar nicht beim Kunden ankommen kann.


Es gab in der Vergangenheit gute Argumente, diesen Preis für die einheitliche Strompreiszone zu zahlen. Aber mit der neuen Grenzregelung muss eine neue Bewertung vorgenommen werden. Alle Hinweise deuten derzeit darauf hin, dass der Preis zu hoch ist: Spürbare Mehrbelastung der Stromkunden, widersinnige Stromflüsse an den Grenzen, höhere CO2-Emissionen und entgegen aller europäischen Ziele Anreize die Grenzkuppelstellen gerade nicht auszubauen.


Der neue Block der Redispatchkosten wird übrigens deutlich teurer sein als die oft dramatisierten Kosten für die Abregelung der erneuerbaren Anlagen hinter einem Netzengpass. Letztere betrugen in 2017 ein Prozent der Stromkosten. Sie dienen als Ausrede, den Ausbau der Erneuerbaren in ganz Deutschland zu bremsen. Es ist höchste Zeit für eine wirklich sachliche Debatte.


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