Herr Vassiliadis, was machen Sie am 21. Dezember?
An dem Tag werde ich gemeinsam mit vielen anderen die deutsche Steinkohle verabschieden.
Mit Tränen in den Augen oder mit Erleichterung?
Für die Menschen und unsere Organisation ist das mit viel Wehmut
verbunden. Eine sehr traditionsreiche Branche, der Deutschland viel zu
verdanken hat, verschwindet. Doch Genugtuung überwiegt: Wir haben
gehalten, was wir versprochen haben und das Thema Steinkohlebergbau
sozialverträglich zu Ende gebracht.
Die IG BCE gäbe es nicht ohne Kohle, Gas und Öl. Was wird aus der Gewerkschaft in der karbonfreien Welt?
Es ist generell sinnvoll, industrielle Produktion zu entkoppeln von dem
klassischen Ressourceneinsatz, der vor 150 Jahren begann. Die Frage ist,
wie radikal wir das tun und welche Alternativen zur Verfügung stehen.
Die Wertschöpfungsketten, die wir haben, können durchaus auch anders
gebaut werden. Wenn wir uns dumm anstellen, brechen diese
Wertschöpfungsketten aber bei uns auseinander und werden an anderen
Orten der Welt neu geschlossen. Das wäre schlecht für unsere Wirtschaft
und den Wohlstand und auch schlecht für das Klima.
Die Notwendigkeit der Dekarbonisierung stellen Sie nicht in Frage?
Der industrielle Kern unserer Wirtschaft steht vor einem gewaltigen
Transformationsprozess – die Debatte um die Kohle, die wir aktuell
führen, bildet dabei nur den Anfang. Nur dass dieser Strukturwandel
nicht durch technologische Innovationen, sondern durch politische
Beschlüsse ausgelöst wird. Deshalb trägt die Politik hier auch eine
besondere Verantwortung. An den großen Industriestandorten dieses Landes
blicken die Beschäftigten sehr genau darauf, welche Ziele die
Verantwortlichen vorgeben und wie sie diesen Wandel in der Praxis
gestalten wollen. Wenn deren Antwort nur heißt, Unliebsames abzuschalten
und die Folgen zu ignorieren, dann kappen sie zentrale
Wertschöpfungsketten und damit den Ast, auf dem wir alle sitzen.
Mit dem Thema Wertschöpfungsketten sehen Sie alt aus in der
öffentlichen Debatte gegen die grüne Ethik der Klima- und Waldschützer.
Klimaschutz ist in aller Munde, weil wir uns das leisten können. Unsere
Gesellschaft hat ein Wohlstandsniveau erreicht, auf dem sich über diese
Dinge engagiert reden und offenkundig auch handeln lässt. Wir müssen
aber aufpassen, dass das Ganze nicht elitär wird. Die gesamte
Gesellschaft muss das mittragen. Es gibt ja auch noch genug andere
Themen in unserem Land, die es zu gestalten gibt. Wenn wir überdrehen,
wird es gefährlich.
Wie denn das?
Es macht keinen Sinn, Klimafragen und soziale Fragen zu entkoppeln mit
dem Ansatz „Da müssen wir eben durch.“ Oder dass man aus einem
bestimmten Blickwinkel anderen Menschen immer neue Vorgaben macht, ohne
diese zu beteiligen. Das ist mit meinem demokratischen Verständnis kaum
noch vereinbar. Wir müssen aufpassen, dass eine zu sehr auf selbst
gesetzte Klimaziele fokussierte Debatte nicht irgendwann radikalen
Gegenpositionen Aufwind gibt, die niemand haben will. Donald Trump lässt
grüßen.
Im Vergleich zu den USA geht es doch hierzulande ziemlich rational zu.
Wir haben allen Grund und auch die Möglichkeiten, als reiches und
verantwortlich handelndes Land beim Klimaschutz voranzugehen. Aber uns
selbst als edles Vorbild aufzuspielen, dem am Ende in der Praxis aber
niemand folgt, wäre töricht. Es stimmt einfach nicht, dass wir in
Deutschland mit einem Anteil von etwas mehr als zwei Prozent an den
weltweiten CO2-Emissionen das Zwei-Grad-Ziel von Paris nennenswert
beeinflussen werden. Das Vorgehen sollte anders aussehen: Wenn wir
unsere Energiewende endlich auch wirtschaftlich zum Erfolg bringen
würden, könnten wir ein Vorbild sein für andere, die nicht so stark sind
wie wir, das Zwei-Grad-Ziel ihrerseits ernsthaft in den Blick zu
nehmen.
Das erklären Sie mal den Leuten im Hambacher Forst.
Die Auseinandersetzung um die Kohle wird gerne mit der Atomkraft
verglichen, weil es um Energie geht. Wir hatten diese Art von Protesten
aber auch schon bei einem Bahnhof in Stuttgart und bei einer Startbahn
in Frankfurt. Auch das wurde am Ende befriedet.
Haben Sie überhaupt kein Verständnis für die Sorgen der Klimaschützer?
Doch! Das Thema ist hoch emotionalisiert und die Menschen, die dort
protestieren, folgen einer Überzeugung. Es gibt einen Bedarf in der
Gesellschaft nach Zukunftsbildern, und der sensitive Umgang mit der
Natur gehört dazu. Das nehmen wir natürlich ernst. Allerdings
instrumentalisieren viele Kampagnenorganisationen das Thema eher
populistisch. Da wird der Hambacher Forst zum 12000 Jahre alten
Hambacher Wald, und zugleich holzen wir täglich massenhaft Wald zum Bau
von Windrädern ab. Kein Wort dazu. Oder nehmen Sie die Grünen, die als
Teil der damaligen NRW-Landesregierung einst selbst die Bergbauplanung
einschließlich des Hambacher Forsts mit beschlossen haben – weil es
dafür schlicht sachliche Gründe gab und bis heute gibt.
Die Zeiten ändern sich.
Wir brauchen Leidenschaft und Ideen von einer Gesellschaft der Zukunft.
Das darf aber nicht zu einem Neo-Biedermeier führen, indem wir uns auf
ein paar kleine Themen zurückziehen und ignorieren, was um uns herum
passiert. Und wir brauchen Konsistenz in der Politik. Auch über
Legislaturperioden hinaus.
Deshalb gibt es ja die Kommission, die sich mit der Zukunft
der Braunkohlereviere befasst. Ist die Arbeit lösungsorientiert, oder
werden die gewohnten Schlachten geschlagen?
Im Großen und Ganzen ist es uns gelungen, diese Schlacht von draußen
nicht drinnen zu führen. Wir haben eine Menge Hearings hinter uns, unter
anderem mit Wissenschaftlern. Bei vielen Fragen, auf die es bislang
fundamentalistische Antworten gab, sind wir inzwischen zu Abwägungen
gekommen. Zum Beispiel bei der Versorgungssicherheit. Wenn wir aus der
Kohle aussteigen, wird die Stromversorgung unsicherer. Solche Fakten
sind wichtig für die Kommission.
Wie wird denn das Zieldreieck aus Versorgungssicherheit, Strompreisstabilität und Klimaschutz ist der Kommission abgewogen?
Es gab den Versuch einer einseitigen Priorisierung, aber das hat sich
erledigt. Das Bemühen um eine Balance ist da. Ich lege großen Wert auf
die Betrachtung von Preiseffekten für Industrie und Verbraucher. Wenn
wir nach der Devise „Koste es, was es wolle“ vorgehen, haben wir bald
keine energieintensiven Industrien mehr in Deutschland.
Und das ist Konsens in der Kommission?
Ich denke schon. Die erforderlichen Kenntnisse und Informationen liegen
vor, jetzt geht es um die richtigen Schlussfolgerungen für die Menschen
und die Regionen, die Wirtschaft und die Umwelt.
Wie relevant ist die besondere Situation der Lausitz?
In der Kommission gab es einen beeindruckenden Auftritt des früheren
Leag-Betriebsratsvorsitzenden, der beschrieben hat, was die Lausitzer
nach der Wende durchgemacht haben. Alle Kommissionsmitglieder sollten
beherzigen: Das, was wir sagen und vorschlagen, muss in der Lausitz
verstanden werden. Die Monostruktur ist natürlich eine Herausforderung.
Deshalb müssen wir jetzt mit dem Aufbau von etwas Neuem beginnen.
Was könnte das sein?
Mit staatlichen Subventionen kann man helfen, doch es muss vor allem
Sinn machen. Zum Beispiel könnte eine Wertschöpfungskette um den
Chemiecluster der BASF in Schwarzheide entstehen. Die BASF wird dort
ihre Batteriechemie ansiedeln. Die Frage ist, ob man dort die
Wertschöpfungskette erweitern kann. Das zweite Thema ist Exzellenz.
Exzellenz?
Wir haben Universitäten in der Region, doch wir brauchen mehr und
anderer Institute. Und mein dritter Punkt: Die Lausitz im Dreieck mit
Polen und Tschechien denken.
Zum ersten Punkt. Wirtschaftsminister Altmaier will eine
Milliarde bereitstellen für eine Batteriezellenfertigung in der Lausitz.
Das würde zu BASF passen.
Wenn das wirklich passiert und dafür die Voraussetzungen in Brüssel
geschaffen werden, dann macht das Sinn. Und stabilisiert im Übrigen auch
die Wertschöpfungskette in der Automobilindustrie. Das ist eine gute
Idee, aber wir brauchen noch weitere.
Zum Beispiel?
Die Infrastruktur muss so entwickelt sein, dass die Region für
Investoren attraktiv ist, aber auch für die Menschen, die dort leben. Es
geht um die Kinder und die Enkel der jetzt in der Braunkohle tätigen
Menschen. Gerade in der Lausitz ist die Heimatverbundenheit sehr
ausgeprägt. Wenn es einen ICE gibt, der die Lausitz mit Dresden und
Berlin verbindet, dann wäre das hilfreich, um ein Bespiel zu nennen.
Zu Punkt zwei, der Exzellenz. Gibt es entsprechende Signale der Regierung?
Wir erwarten, dass Berlin die Ankündigungen auch umsetzt und
Bundeseinrichtungen prioritär in der Lausitz ansiedelt. Das kann man
festlegen in einem Gesetz: Wegen des politisch begründeten Ausstiegs aus
der Kohle werden wir in den nächsten zehn Jahren Bundesinstitute
verbindlich in der Lausitz ansiedeln. Das ist viel einfacher, als
Investoren aus der ganzen Welt anzulocken, und für mich auch ein
Messpunkt dafür, wie ernst die Politik das Thema nimmt.
Was halten Sie von der Idee einer länderübergreifenden Lausitz AG, die sich um die Entwicklung der Region kümmert?
Die Idee ist gut. Wir brauchen so eine Einrichtung auch dafür, um das
Bestehende zu sichern und die ganze Region inklusive Polen und
Tschechien in den Blick zu nehmen. Wir müssen endlich aus dem
Politikverwaltungsmodus rauskommen und handeln. Und wenn alle
Beteiligten rational auf das Thema Klimaschutz blicken, dann bekommen
wir einen Weg hin, um das Klimaziel 2030 ohne schwere Verzerrungen zu
erreichen.
Klimaschützer sagen, das klappt nur ohne Kohle.
Das stimmt nicht. Es wird auf jeden Fall nur gehen mit sehr viel weniger
Kohle. Wir haben das CO2-Zertifikate-Handelssystem in Europa, wonach
die Kohle sowieso unwirtschaftlicher wird und nach und nach vom Markt
verschwindet. Aber zu den Zielen: Das Ausbauziel der Erneuerbaren liegt
hierzulande bei 65 Prozent bis 2030, das sind zehn Prozent mehr als in
der EU. Und hier sind wir beim Zusammenhang Kohleausstieg und
Energiewende mit allen ihren Absurditäten. In Baden-Württemberg, das
einzige Bundesland mit einem grünen Ministerpräsidenten, dürfen wir
derzeit keinen Kohleausstieg machen. Das hat die Bundesnetzagentur
untersagt wegen der Systemrelevanz der Kohle.
Ohne Kohlestrom würde das Netz kollabieren?
Und Umständen ja. Weil der Ausbau der Erneuerbaren nicht synchron verläuft zum Ausbau der Netze und Speicher.
Was folgt daraus für die Kohle?
Für die Verbraucher und die Wirtschaft droht eine neue Absurdität: Wenn
die Kohle weg ist, müssen wir teurer Gaskraftwerke bauen, die dann nach
einigen Jahren auch wieder abgeschaltet werden, weil es dann ausreichend
Netze und Speicher für erneuerbare Energie gibt. Das kann man alles
machen – kostet aber noch mehr Milliarden als jetzt schon die ganze
Energiewende. Mit 25 Milliarden Euro finanzieren die Stromverbraucher
jedes Jahr die Erneuerbaren.
Und die Alternative?
Es ist viel vernünftiger, direkt von der Kohle zu den Erneuerbaren zu
kommen. Wenn wir beispielsweise das Ausbauziel für die Erneuerbaren
erreichen und zeitgleich die für ihren erfolgreichen Einsatz notwendigen
Leitungen und Speicher schaffen würden, könnte sich auch der
Auslaufprozess bei der Kohle beschleunigen. Meine größte Sorge ist, dass
die ganze Energiewende Mitte des nächsten Jahrzehnts stecken bleibt,
weil zu teuer und zu ineffizient, und dann ein großer Rollback gefordert
wird.
Das Interview führte Alfons Frese.