Standpunkte Die Europäische Union braucht ambitionierte 2030-Ziele

Warum Rainer Hinrichs-Rahlwes den Protest der Europäer gegen den "klimapolitischen Amoklauf" der USA nicht 100 Prozent überzeugend findet - und was er der Staatengemeinschaft gegen Lippenbekenntnisse empfiehlt, schreibt er in seinem Standpunkt.

von Rainer Hinrichs-Rahlwes

veröffentlicht am 19.06.2017

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In berechtigtem Ärger über den klima- und energiepolitischen Amoklauf des US-Präsidenten und dessen angekündigtem Ausstieg aus dem Pariser Klimaschutzabkommen betonen Politiker fast aller Parteien und Regierungen fast aller Mitgliedstaaten in Europa, es gelte das Abkommen zu verteidigen und mit Leben zu füllen. Es wäre schön, wenn sie das nicht nur sagen, sondern auch selbst beherzigen würden. Die wohlfeilen Bekenntnisse lassen allzu leicht vergessen, dass viele der Freunde des Abkommens nur verbal die Klimaschutzziele unterstreichen – aber gleichzeitig den Ausbau der Erneuerbaren Energien verlangsamen oder gar auszubremsen, indem sie zum Beispiel weiterhin schmutzige und teure fossile Energien oder Atomkraft subventionieren.


Gegen diese Feststellung wird oft eingewandt, immerhin seien Europa und viele Mitgliedstaaten im internationalen Vergleich Spitze. Auch dies erweist sich zunehmend als Ausrede oder auch Schutzbehauptung, die der Realität kaum noch standhält. Und der Erreichung der Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens nützt es auch nichts, wenn Europa weniger zu wenig täte als andere. Und dem Aufbau und Erhalt zukunftsfähiger heimischer Märkte, Industrien und Arbeitsplätze hilft auch nicht.


Investiert wird anderswo


Investitionen in und Zubau von Erneuerbaren Energien haben sich in den letzten Jahren in anderen Teilen der Welt – China, Indien, USA, Japan, Brasilien  – deutlich ambitionierter entwickelt als in Europa, wo die ehemaligen Champions Deutschland, Spanien, Dänemark hinter ihren Konkurrenten aus Entwicklungsländern zurückfallen. Dies hat der jüngste Global Status Report von REN21 gerade erst wieder sehr deutlich gemacht. Deshalb ist es gut, dass wenigstens darüber diskutiert wird, ob und wie Europa die Energiewende beschleunigen kann und sollte.


In Brüssel und vielen anderen Orten in Europas findet in dieser Woche die European Sustainable Energy Week (EUSEW) statt. Herausforderungen und Möglichkeiten einer auf Klimaschutz und sauberer Energie basierenden Energie Union werden dort von politischen Entscheidungsträgern mit Interessenvertretern und Zivilgesellschaft diskutiert.


Und auch in dieser Woche befassen sich die Ausschüsse des Europäischen Parlamentes wieder mit dem klima- und energiepolitischen Rahmen für die Zeit von 2020 bis 2030 und danach. Sie beraten die Vorschläge der EU-Kommission vom November 2016 (das „Saubere-Energie-für-alle-Europäer“-Paket), die inhaltlich basieren auf Beschlüssen des Europäischen Rates vom Oktober 2014, also deutlich vor dem Pariser Abkommen und vor Trumps Ausstieg daraus. Viele Abgeordnete wollen diese Vorschläge nachzubessern mit anspruchsvolleren, realistischen Zielen und mehr Investitionssicherheit für große und kleine, zentrale und dezentrale Investoren in Erneuerbare Energien und Energieeffizienz. Die Berichterstatter für die Novellierung der Erneuerbaren Richtlinie (José Blanco Lopez aus Spanien) und der Governance Richtlinie (Claude Turmes aus Luxemburg) haben ihre Vorschläge bereits vorgestellt, mit denen sie die EU-Klima- und Energiepolitik in Einklang mit dem Pariser Abkommen bringen wollen.


Mehr Ehrgeiz beim Ausbau erneuerbarer Energien


Sie fordern 2030-Ziele von wenigstens 35 beziehungsweise 45 Prozent für Erneuerbare und 40 Prozent für Energieeffizienz – deutlich mehr als der wenig ambitionierte 27-Prozent- beziehungsweise 30-Prozent-Vorschlag von Rat und Kommission. Sie fordern im Gegensatz zum Vorschlag der Kommission die Beibehaltung und Durchsetzung von verbindlichen nationalen Mindestzielen und einen linearen Ausbaupfad, nicht nur für die EU insgesamt, sondern für jeden Mitgliedstaat, wie sie bekanntlich bis 2020 auch gelten – zu Recht verlassen sie sich nicht darauf, dass die Kohle- und Atomstaaten ohne einen verbindlichen, stabilen rechtlichen und regulatorischen Rahmen hinreichende Anstrengungen für einen ernstgemeinten Klimaschutz und die Energiewende unternehmen werden.


Die Berichterstatter halten einen ambitionierten und verlässlichen europäischen Beitrag zur Erreichung der Ziele des Pariser Abkommens für zwingend. Deshalb fordern sie ein schnell wirksames Instrument, mit dem frühzeitig erkannt werden kann, ob und wo Zielverfehlung droht, und Festlegung von Mechanismen, um bei Bedarf schnell nachzusteuern. Die Berichterstatter unterstreichen, dass es den Mitgliedstaaten weiterhin möglich sein soll, technologiespezifische Instrumente zur Beschleunigung der Energiewende entsprechend den nationalen Besonderheiten beizubehalten, weiterzuentwickeln oder neu einzuführen. Die Berichterstatter verlangen weiter, dass Vorrang für Erneuerbare Energien bei Netzzugang und Dispatch weiterhin möglich sein soll – jedenfalls für kleinere und dezentrale Anlagen. Sie begrüßen die Förderung von Eigenverbrauch und von Community Energy. Regionale und makroregionale Zusammenarbeit sollen verstärkt gesucht, aber den Mitgliedstaaten nicht verbindlich vorgeschrieben werden.


Wie sollen erneuerbare Energien gefördert werden?


Der Berichterstatter für die Revision der Erneuerbaren-Richtlinie, der spanische Sozialdemokrat Joé Blanco Lopez, fordert zusätzlich, die vorgeschlagene verbindliche Öffnung nationaler Fördersysteme für Akteure aus anderen EU-Ländern von zehn Prozent ab 2020 und 15 Prozent ab 2025 auf 15 beziehungsweise 20 Prozent zu erhöhen – eine Forderung, die aus Sicht der Iberischen Halbinsel und unzureichenden Stromleitungen nach Frankreich verständlich sein mag, die aber kaum als Lösung taugen dürfte und auch daher sehr kontrovers diskutiert werden dürfte. Verbindliche Öffnung von Fördersystemen bedeutet nicht, dass grenzüberschreitende Transportkapazitäten geschaffen werden, möglicherweise sogar im Gegenteil, solange die Öffnung der Fördersysteme nicht auf Gegenseitigkeit beruht und den physikalischen Fluss von Strom zwischen den beteiligten Staaten zwingend einschließt. Auch eine notwendige Anpassung der unterschiedlichen Marktdesigns wäre mit einer Öffnung nicht notwendigerweise verbunden. Wichtiger als unter unzulänglichen Rahmenbedingungen eine Öffnung zu erzwingen, wäre es, verbindlich grenzüberschreitende Transportkapazitäten auszuweiten und auch aus diesem Grund eine Öffnung von Fördersystemen zwingend an die Voraussetzung von physikalischem Stromfluss ins beteiligte Nachbarland zu knüpfen.


Die weitgehend positiven Ansätze von Turmes und Blanco Lopez stehen im deutlichen Kontrast zum Vorschlag des Berichterstatters für die Neufassung der Energieeffizienz-Richtlinie, dem polnischen Sozialdemokraten Adam Gierek, der sogar vorschlägt, von der Kommission formuliere Ziele zu reduzieren und Verbindlichkeiten aufzuweichen. Es ist davon auszugehen, dass auch weitere der bis zur Sommerpause vorzulegenden Berichtsentwürfe für die Gebäudeeffizienz-Richtlinie, für die Marktdesign-Richtlinie und -Verordnung, zur Risikovorsorge, und zur Stellung von ACER Verbesserungen des bisher niedrigen Ambitionsniveaus und Herstellung der Kompatibilität mit dem Pariser Abkommen verlangen werden – aber auch Vorschläge zur Aufweichung oder Reduzierung der Ambitionen sind nicht auszuschließen.


Die heiße Phase kommt im Herbst


Das Europäische Parlament wird alle Vorschläge der ersten Beratungsrunde bis zur Sommerpause vorliegen haben und über diese im September (Effizienz, Erneuerbare, Governance) und Oktober (Marktdesign, ACER, Risikovorsorge) in den Ausschüssen beraten und abstimmen. Mitte Oktober beziehungsweise Ende November wird nach derzeitigen Plänen das Plenum des Parlaments über verbleibende Dissense und gefundene Kompromisse entscheiden und damit die Verhandlungsgrundlage für die notwendige Einigung mit dem Europäischen Rat (also den Mitgliedstaaten) beschließen. Es bleibt zu hoffen, dass das Parlament an seiner entschiedenen Haltung zur Erhöhung der Ziele und zur Verbesserung der Investitionsbedingungen für die Energiewende festhalten wird, indem es diejenigen Änderungsvorschläge beschließt, die die notwendigen Optimierungen und Verbesserungen des 2030-Paketes zum Inhalt haben. Die Verhandlungen mit den Mitgliedsstaaten werden ohnehin schwierig genug werden.


Rainer Hinrichs-Rahlwes ist Vizepräsident der European Renewable Energies Federation (EREF)

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