Wer nach den (überschaubaren) positiven Auswirkungen der Coronapandemie fragt, wird vielleicht hier fündig: Nicht nur im Vereinswesen hat Covid-19 einen regelrechten Digitalisierungsschub ausgelöst. Damit Aktiengesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung, Genossenschaften oder Vereine in Zeiten von Ausgangssperren und AHA-Regeln auch digital rechtssichere Beschlüsse fassen konnten, hatte der Gesetzgeber eine großzügige Sonderregelung auf den Weg gebracht. Die dafür geschaffene Rechtsgrundlage, das Gesetz mit der sperrigen Abkürzung GesRuaCOVBekG, ist zum 31. August 2022 ausgelaufen. Während für alle anderen Rechtsformen unmittelbar geltende Anschlussregelungen erlassen wurden, fiel das Vereinswesen unter den Tisch – eine fast halbjährige Regelungslücke war die Folge.
Dabei betrifft das Vereinsrecht rund 600.000 Organisationen, die unser Land am Laufen halten. 29 Millionen Menschen, so Schätzungen, sind in Deutschland ehrenamtlich engagiert. Die Vielfalt ist groß: vom Turnverein, dem Förderverein in der Schule bis hin zu großen Vereinen wie dem Deutschen Roten Kreuz, dem ADAC oder Bayern München. Darüber hinaus sind sämtliche Verbände betroffen, die vereinsrechtlich organsiert sind und in denen der Vorstand häufig ehrenamtlich arbeitet. Über Verweise im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) gelten viele vereinsrechtliche Regelungen im Übrigen auch für die 24.000 Stiftungen.
Ursprünglicher Gesetzentwurf des Bundesrats sah nur hybride Formate vor
Um dauerhaft Abhilfe zu schaffen, hatte Bayern schon 2022 eine entsprechende Regelung im Bundesrat angestoßen, die dann von der Bundesregierung aufgegriffen wurde. In der begleitenden Kommunikation hieß es, dass damit digitale Mitgliederversammlungen möglich seien. Wer in den Entwurf des Gesetzestextes schaute, wurde schnell eines Besseren belehrt: Tatsächlich bedeutete die gewählte Formulierung, dass der Vereinsvorstand seinen Mitgliedern auch eine virtuelle Teilnahme anbieten kann. Mit anderen Worten: Ein physischer Versammlungsort wäre weiterhin zwingend erforderlich, eine rein digitale Durchführung gesetzlich nicht zulässig.
Wer einmal die Herausforderungen einer hybriden Veranstaltung gemeistert hat, weiß um die technischen und vor allem finanziellen Herausforderungen. Damit wären Vereine vermutlich bei reinen Präsenzveranstaltungen geblieben oder hätten Satzungsänderungen anstreben müssen. Das Gesetz wäre ein Beispiel dafür gewesen, wie Digitalisierung und Bürokratieabbau zwar auf politisch höchster Ebene immer wieder vollmundig eingefordert, in der gesetzgeberischen Praxis dann aber ausgebremst werden.
Virtuelle Versammlungsorte als Bedrohung der Mitgliederrechte?
Warum setzte der Gesetzgeber nicht von Anfang auf eine Wahlfreiheit, die je nach Zielgruppe auch vollständig digitale Formate berücksichtigte? Dahinter stand offenkundig die Befürchtung, Mitgliederrechte könnten im virtuellen Raum zu stark beschnitten werden. Nicht umsonst gilt die Mitgliederversammlung als wichtiges und edles Recht der Mitglieder, die Arbeit des Vorstandes zu bewerten und im Zweifelsfall seine Entlastung zu verweigern.
Wir haben diese Vorbehalte prüfen lassen: Das Bündnis für Gemeinnützigkeit – ein Zusammenschluss von großen Dachverbänden und unabhängigen Organisationen des Dritten Sektors, zu dessen Sprecher:innenrat ich gehöre – hat bei Birgit Weitemeyer (Bucerius Law School) ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Unsere Gutachterin, eine der renommiertesten Fachexpert*innen auf dem Gebiet des Vereins- und Stiftungsrechts, kam zu dem Schluss, dass eine vollständig digitale Mitgliederversammlung die Mitgliederrechte nicht signifikant beschränken würde.
Weitemeyer sprach sich vielmehr für eine Präzisierung in Anlehnung an das Genossenschaftsrecht aus, wonach der Vereinsvorstand „nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung der Interessen der Mitglieder“ über die Form der Versammlung (in Präsenz, virtuell oder hybrid) entscheiden könne. So könnte auch sichergestellt werden, dass beispielsweise ältere Personen nicht ausgeschlossen werden, auch wenn die engagierte 70-Jährige häufig digital unterwegs ist und sich die Verbreitung von Smartphones in den letzten zehn Jahren auf heute fast 90 Prozent verdoppelt hat.
Zudem boten gerade die pandemiebedingten Videokonferenzen für Menschen mit Beeinträchtigungen wie Seh- oder Gehbehinderungen, für die eine Teilnahme zuvor beschwerlich war, eine großartige neue Chance zur Teilhabe. Und jungen Menschen ist es nicht zu erklären, warum sie sich treffen müssen, wenn sie online abstimmen können – zumal, wenn mit einer Reise ein nicht unbeträchtlicher CO2-Ausstoß verbunden ist.
Auch bei einer Anhörung des Rechtsausschusses im Bundestag war die große Mehrheit der Sachverständigen der Ansicht, dass auch komplett digitale Formate möglich sein müssen. Hinzu kommt ein weiteres Argument: Der Gesetzgeber hat im letzten Sommer auch digitale Hauptversammlungen ermöglicht. Wurden hier etwa die Aktionärsrechte beschnitten? Hoffentlich nicht.
Der Mehrheitsbeschluss – ein umständlicher Kompromiss
Immerhin hat die Koalition nachgefasst: Der heute auf der Tagesordnung des Bundestagsplenums angekündigte Regelungsvorschlag ermöglicht hybride Versammlungen – soweit der gleichlautende Ursprungsentwurf. Neu ist allerdings die Ergänzung, dass die Mitgliederversammlung nun per Mehrheitsbeschluss beschließen kann, künftige Versammlungen auch rein virtuell dauerhaft zu ermöglichen. Mit diesem Zusatz wollte die Koalition und insbesondere jener Teil, der sich für die Basisdemokratie starkmacht, offenbar einen Kompromiss zugunsten der Mitgliederrechte finden.
Leider bedeutet dies ein Bruch im Vereinsrecht, da alle Bestimmungen zur rechtmäßigen Durchführung von Mitgliederversammlungen entweder über das BGB oder die Satzung geregelt sind. Zukünftig könnten neue Vorstände erstmals gezwungen sein, in alten Mitgliederbeschlüssen zu suchen, ob in der Vergangenheit bereits für virtuelle Versammlungen gestimmt wurde, damit ihre Beschlüsse nicht anfechtbar sind. Nicht nur einem regelkonformen Rechtssystem, sondern auch den in Deutschland ehrenamtlich tätigen Menschen, die mit großem Engagement und hoher Verantwortung, aber ohne die juristische Expertise eines Fachanwaltes agieren, hat man damit keinen Gefallen getan.
Kirsten Hommelhoff ist Generalsekretärin des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen und Mitglied im Sprecher*innenrat des Bündnis für Gemeinnützigkeit.