Die Hälfte aller Treibhausgasemissionen und 90 Prozent des Verlusts an Biodiversität gehen darauf zurück, wie in unserer Wirtschaft Ressourcen gewonnen und verarbeitet werden. Wir müssen deshalb so schnell wie möglich weg von der linearen Wirtschaft, in der Ressourcen von der Fabrik zielsicher auf die Müllhalde wandern. Es reicht auch nicht, in Zukunft weniger Müll zu produzieren und etwas mehr zu recyceln. Um Klimawandel und Ressourcenknappheit langfristig zu adressieren, bedarf es einer umfassenden Kreislaufwirtschaft nach dem „Cradle toCradle“-Prinzip. Das heißt, dass Produkte, Produktion und Geschäftsmodelle von Beginn an so gestaltet werden, dass Materialien und Ressourcen quasi endlos im Kreis zirkulieren können.
Die Digitalisierung ist ein wichtiger und mächtiger Hebel, um diese Transformation in Gang zu setzen. Um zirkuläre Wertschöpfung zu ermöglichen, bedarf es eines komplexen Managements von Material- und Stoffströmen entlang des gesamten Lebenszyklus eines Produkts. Der Schlüssel dazu sind Daten. Je mehr Informationen über die Zusammensetzung, Verwendung sowie Umwelt- und Gesundheitseffekte von Produkten digital erfasst, geteilt, analysiert und verarbeitet werden, desto leichter lassen sich Rohstoffe und Produkte im Kreis führen beziehungsweise zirkuläre Geschäftsmodelle und Ökosysteme skalieren.
Mit Produktpässen zirkuläre Wertschöpfung stärker skalieren
Die Europäische Union hat erkannt, welche Bedeutung Daten für das Ziel spielen, Europas Wirtschaft zirkulär zu organisieren. Laut dem Entwurf der Europäischen Kommission für die Ökodesign-Verordnung soll in Zukunft für jedes in der EU gehandelte Produkt ein Digitaler Produktpass (DPP) vorliegen und darüber alle Informationen verfügbar sein, die notwendig sind, um Produkte und Materialien im Kreis zu führen.
Eine durchgehend zirkuläre Wertschöpfung wird erst dann möglich, wenn Produkte ausschließlich Materialien enthalten, die endlos in biologischen oder technischen Kreisläufen zirkulieren können und für das jeweilige Nutzungsszenario eines Produkts geeignet sind. Schon heute kann der DPP dafür in unterschiedlichen Branchen und Lebenszyklusphasen eines Produkts die Voraussetzungen schaffen.
Verknüpft man etwa im Bausektor den digitalen Zwilling eines Gebäudes mit den DPPs der Baumaterialien, ist zum einen die ökologische Bilanz des Bauprojekts, zum Beispiel der CO2-Footprint, die Ressourcennutzung und Materialgesundheit, bekannt; zum anderen werden der Rückbau und die Kreislaufführung der Baustoffe ermöglicht. Das Gebäude wird zum Materiallager der Zukunft. DPPs fördern auch im weiteren Produktlebenszyklus Zirkularität. Wenn in einer Waschmaschine oder einem Handy ein Verschleißteil kaputt geht, kann dieses mittels der Informationen des DPP einfach ersetzt werden. DPPs von Textilien erleichtern die automatisierte Sortierung und Kreislaufführung textiler Fasern. Diese Beispiele zeigen, wie mithilfe von DPPs zirkuläre Wertschöpfung skaliert werden kann.
Funktionierende Regeln für das Datenteilen sind nötig
Damit der DPP sein Potenzial entfalten kann, braucht es allerdings verbindliche, am Ziel der Zirkularität ausgerichtete Regeln dafür, welche Daten von wem erhoben und mit wem geteilt werden müssen und welche Standards hierbei zu berücksichtigen sind – kurz: eine zirkuläre Daten-Governance. Es gibt bereits zahlreiche Initiativen, die Produktpässe und damit verbundene Infrastrukturen für einzelne Sektoren entwickeln. Ein prominentes und vorangeschrittenes Beispiel ist Catena-X, ein von verschiedenen Leitunternehmen des Automobilsektors vorangetriebenes Datenökosystem. Solche privatwirtschaftlichen Initiativen sind zu begrüßen, beinhalten jedoch auch Risiken, die von der Politik adressiert werden müssen.
Zum einen muss die Politik für Interoperabilität der sektor- beziehungsweise produktspezifischen DPPs sorgen. Denn gerade in der sektorübergreifenden Kooperation liegt großes Potenzial für zirkuläre Wertschöpfung, etwa wenn aus E-Autos ausgemusterte Autobatterien ein zweites Leben als stationäre Energiespeicher erhalten. Zum anderen muss die Politik den DPP als ein Instrument der Marktgestaltung verstehen und nutzen.
Nicht nur den Markt regeln lassen
Das Beispiel der Plattformökonomie hat gezeigt, wie bedeutend der Zugang zu Daten ist, wenn es um neue Produkte, Geschäftsmodelle und Märkte geht. Aber auch, dass es auf diesen Märkten zu Daten-Silos und Fehlentwicklungen kommen kann, wenn die Daten-Governance dem Markt überlassen wird. Wenn Europa die Macht der Daten nutzen will, um eine Kreislaufwirtschaft zu gestalten, muss es die Lehren aus diesen Erfahrungen ziehen und darauf achten, dass Standards und Regeln zum Teilen der Daten sowie die damit verbundenen digitalen Schnittstellen und Infrastrukturen so gestaltet werden, dass faire und gute Märkte entstehen.
Das bedeutet nicht, dass die Politik die Regeln und Spezifikationen im Alleingang vornimmt. Aber sie muss inhaltliche und technische Mindeststandards festlegen und darauf achten, dass die Interessen aller Stakeholder einer Kreislaufwirtschaft Beachtung finden, vom Konzern bis zur kleinen Reparaturwerkstatt, vom Start-up bis zum Traditionsmittelständler. Vor allem muss die Politik dafür sorgen, dass auch zivilgesellschaftliche Akteure, wie Umwelt- und Verbraucherschutzverbände, Zertifizierer oder auch Akteure aus der Open Data- und Open Source-Bewegung, sprich: Gemeinwohlinteressen einen festen Platz in diesen Prozessen haben.
Denn – und auch das sollte sich die Politik bewusst machen – der Umstand, dass der Digitale Produktpass ein mächtiger Hebel für Transformation sein kann, impliziert auch, dass viele Partikularinteressen und potenziell auch Widerstände mit diesem Projekt verbunden sein werden.
Das Beispiel der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) zeigt, dass Europa mit einer klugen Datenpolitik Märkte gestalten kann, sogar jenseits der EU. Damit dies gelingt, braucht es jetzt politische Initiative auf europäischer und nationaler Ebene. Deutschland muss sich des Potenzials bewusstwerden, das im Erfassen, Standardisieren und Teilen von Produktdaten für eine zukunftsfähige Wirtschaft liegt, und sich dieses Potenzial im Sinne einer umfassenden Kreislaufwirtschaft erschließen. Die Nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie, deren Erarbeitung bereits begonnen hat und die in dieser Legislatur verabschiedet werden soll, bietet hierzu einen guten Rahmen.
Stefanie Moser ist seit 2017 verantwortlich für den Arbeitsbereich Digitalisierung der Abteilung Analyse, Planung und Beratung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Im Rahmen Ihrer Arbeit beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit Fragen der Datenpolitik und koordinierte die Kongressreihe „Digitaler Kapitalismus“.
Nora Sophie Griefahn ist Co-Gründerin und geschäftsführende Vorständin der NGO Cradle to Cradle in Berlin. Die Umweltwissenschaftlerin ist eine gefragte Expertin für „Cradle to Cradle“ und die Transformation hin zu einer klimapositiven Zukunft und lehrt an verschiedenen deutschen Hochschulen.
Co-Autoren: Max Ostermayer, Friedrich-Ebert-Stiftung; Isabel Gomez, C2C NGO
Die Ergebnisse der Studie „Diedigitale Circular Economy“ der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Cradle to Cradle NGO werden am 9. September auf dem C2C Congress vorgestellt.