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Digitalisierung & KI

Standpunkte Digitale Souveränität: Europa muss die Zügel in die Hand nehmen

Stadtrat, IT-Referent & CDO von München, Thomas Bönig
Stadtrat, IT-Referent & CDO von München, Thomas Bönig

Europa hat hat im Digitalen keinen nennenswerten Einfluss auf aktuelle Entwicklungen und ist damit nur noch Zuschauer mit einer größtenteils passiven Rolle, glaubt Münchens CDO Thomas Bönig. Dieser strategischen Fehlentwicklung muss man deutlicher entgegensteuern, als dies bisher geschieht, erklärt er im Standpunkt.

von Thomas Bönig

veröffentlicht am 18.12.2020

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Digitalisierung, zentrales gesellschaftliches Thema des 21. Jahrhunderts mit großem Einfluss auf alle Lebensbereiche und Motor von weitreichenden Veränderungen. Weltweit etablieren sich durch diesen globalen Prozess der digitalen Transformation neue berufliche oder persönliche Möglichkeiten für die Menschen. Durch die vermehrte Nutzung digitaler Technologie erodieren lange bestehende gesellschaftliche Wertesysteme schnell, da neue digitale Potentiale erheblichen Auswirkungen auf die Art und Weise haben, wie wir zukünftig zusammenleben, miteinander interagieren oder kommunizieren.

Europa ist im Digitalen nur Zuschauer

Dieser weltweit rasant stattfindende Wandel wird von der Politik nur zögerlich oder gar nicht wahrgenommen. Für Europa ist es schon lange höchst problematisch, dass die digitalen Trendsetter, welche Standards in der Digitalisierung setzen, nahezu ausschließlich aus Amerika oder Asien kommen. Europa hat somit in vielen Bereichen der begonnenen gesellschaftlichen Transformationen keinen nennenswerten Einfluss auf aktuelle Entwicklungen und ist damit nur noch Zuschauer mit einer größtenteils passiven Rolle.

In Europa zeichnet sich wiederholt eine negative Entwicklung ab, wie sie in der europäischen IT-Branche schon seit längerem stattfindet. In diesem wichtigen industriellen Zweig ist man mehr Konsument als Produzent, obwohl IT eine der zentralen zukunftsorientierten Schlüsselindustrien und zum nachhaltigen Setzen von Impulsen in der Digitalisierung eine unverzichtbare Grundlage ist. Die heutige Situation in der europäischen IT-Industrie ist nicht nur eine politische, sondern auch eine strategische Fehlentwicklung, die sich bei vielen Themen der Souveränität immer drastischer negativ bemerkbar machen wird. Weiterhin tangiert sie auch erhebliche wirtschaftliche sowie gesellschaftliche Aspekte und Interessen, da Europa von technologischen Importen in zentralen und wichtigen Bereichen fast aller Unternehmen und öffentlichen Institutionen extreme und überaus kritische Abhängigkeiten aufweist.

Es braucht eine nachhaltige Strategie

Die weitreichende Bedeutung der neu entstandenen Digitalbranche für Industrie und Gesellschaft wird immer noch nicht ausreichend wahrgenommen, der europäische Markt ist vollständig dem Einfluss nordamerikanischer beziehungsweise asiatischer Unternehmen ausgesetzt, ohne dass man Initiativen entdecken kann, dass sich das ändern soll. Da Digitalisierung nicht nur eine rein technologische Entwicklung ist, sondern auch vielfältige gesellschaftliche Bereiche wie Kultur, Lebensqualität, Medien oder auch die Kommunikation verändert, wird dies immer größere Auswirkungen auf das Leben der Menschen haben, wenn nicht zügig auf politischer Ebene mit einer klaren Strategie auf diese Herausforderungen reagiert wird. Eine nachhaltige Strategie für eine digitale Zukunft ist unumgänglich, denn sie stellt langfristig sicher, dass man zuallererst die richtigen Dinge tut, bevor man dann die Dinge richtig tut.

Die sich abzeichnenden Ansprüche und Bedarfe einer zunehmend digitalen Gesellschaft sind vielfältig und bei genauerem Hinsehen schon länger deutlich zu erkennen. Von einem stark geänderten Kommunikationsverhalten durch soziale Medien über immer schnellere Zyklen bei der Nutzung neuer innovativer Technologien für zum Beispiel Online-Aktivitäten bis hin zu einer enormen Steigerung der Produktivität und Leistungsfähigkeit im beruflichen wie auch privaten Umfeld ist vieles heute schon Realität, was gestern vielleicht noch Fiktion war. Doch mit welchen konkreten gesellschaftlichen Auswirkungen ist in Zukunft zu rechnen beziehungsweise was passiert mit einer Gesellschaft und den Menschen, wenn diese digitale Transformation zunehmend schneller stattfinden wird? Dazu kann man sich – hier sehr stark vereinfacht dargestellt – an den Prinzipien der darwinistischen Evolution orientieren. Über Millionen von Jahren bestimmte ausschließlich der genetische Pool die evolutionäre Weiterentwicklung von Lebewesen und bedingte, dass sich nur die leistungsfähigsten beziehungsweise anpassungsfähigsten Organismen durchgesetzt haben.

Evolution durch Wissen

Mit der Entwicklung von komplexer Sprache und Schrift, um Wissen zu dokumentieren und breit zugänglich zu machen, wurden die „Spielregeln“ der Evolution erweitert. Individuen oder Gemeinschaften konnten ihr Wissen dauerhaft verfestigen und weitergeben, ohne dass dies über eine genetische Codierung erfolgen musste. Die Evolution des Menschen war spätestens ab diesem Zeitpunkt nicht mehr ausschließlich auf genetischen Code begrenzt. Wer in der Gesellschaft auf dokumentiertes Wissen zugreifen konnte, war in der Lage für sich erhebliche Vorteile zu generieren oder dieses Wissen weiter zu entwickeln. Als logische Folge davon wurden bis dato relevante Kriterien der menschlichen Entwicklung erheblich beeinflusst und die Menschheit konnte sich deutlich schneller und nach anderen, in Teilen selbst beeinflussten Maßstäben fortentwickeln. In den letzten Jahrhunderten zeigte sich deutlich, dass Nationen, die auf hochwertiges Wissen und in Konsequenz davon auch auf fortschrittliche Technologie zugreifen konnten, in der Lage waren weltweite Imperien zu etablieren, die sich oft auf hochwertige militärische Technologie oder auch auf industrielle Stärke zurückführen ließen.

Seit Beginn dieses Jahrtausends ist ein neuer elementarer Faktor hinzugekommen, der für die bisherige Veränderungsgeschwindigkeit bei der Weiterentwicklung des Menschen eine neue Dimension darstellt – digitale Technologie, die in immer schnelleren Zyklen leistungsfähiger, intelligenter und kostengünstiger wird. Menschen können sich schon jetzt und zukünftig noch stärker durch Nutzung digitaler Technik erhebliche Vorteile verschaffen, wenn Sie aufgrund ihrer Bildung oder ihrer finanziellen Verhältnisse das notwendige Know-how sowie den Zugang zu hochwertiger Technologie haben. Im Zusammenwirken mit den bereits bestehenden globalen Netzwerken können schon kleinere Vorteile durch digitale Technologie zu enormen Mehrwerten führen, für einzelne Personen, aber vor allem für Unternehmen, welche diese geschickt zu nutzen wissen und darin in großem Umfang investieren.

Schnelleres Handeln nötig

Diese digitale „Evolution“ hat damit direkt oder indirekt einen schnell anwachsenden Einfluss auch auf bestehende gesellschaftliche Verhältnisse. Immer mehr Menschen nutzen heutzutage digitale Technologien auch im privaten Umfeld, eine immer mehr digitale Gesellschaft entsteht aus sich selbst heraus. In Zukunft werden Menschen digitale Technologien noch stärker zu ihrem persönlichen Vorteil und zur Steigerung der eigenen Leistungsfähigkeit einsetzen. Dass Menschen solche Potenziale schnell erkennen und auch nutzen hat der Spitzensport in seiner langen Geschichte des Dopings deutlich aufgezeigt. Diese inzwischen rasante Entwicklung und Transformation wird zu vielfältigen, großen umwälzenden Veränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft, öffentlichem Sektor und Politik führen und eine immer schnellere Anpassung an neue Gegebenheiten wird mit jedem neuen Zeitabschnitt wichtiger oder gar überlebenswichtig.

Deutschland und Europa wären gut beraten, sich auf radikale Veränderungen durch Digitalisierung vorzubereiten und schnellstens neue Wege zu beschreiten, damit man sich an die neu entstehenden digitalen Verhältnisse anpasst. Wie das genau zu passieren hat, ist schwer vorauszusagen, aber es dürfte in jedem Fall besser sein die Zügel selbst in der Hand zu haben und nicht nur abzuwarten, was die anderen tun beziehungsweise gar nichts zu tun oder immer wieder mit nationalen Gesetzen zu agieren, die nur einen begrenzten regionalen Einfluss haben werden. Wenn wir über Souveränität in Deutschland und Europa reden wollen muss mehr – und vor allem schneller und konsequenter – gehandelt werden.

Thomas Bönig ist seit 2018 berufsmäßiger Stadtrat und IT-Referent der Stadt München. In dieser Rolle fungiert er auch als CIO und CDO der bayerischen Landeshauptstadt.

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