Aktuell leben wir in einer Phase des Beinahe-Stillstandes. Social Distancing und „Flatten the Curve“ haben oberste Priorität. Es geht ums Ganze. Deswegen ist es auch richtig, dass sich alle Kräfte auf die Coronakrise konzentrieren. Andere Probleme treten in den Hintergrund und verblassen. Die Virologen sagen, wir seien jetzt noch in einer frühen Phase, das alles ist also erst der Anfang und wir haben noch schwierige Wochen und Monate vor uns. „Mutt eerst maal worden bevöör’t beter word“ sagen wir in Ostfriesland. Darin steckt aber auch eine Chance. Eine berühmte Psychologin hat einmal gesagt: „Krise ist auch nur eine Gelegenheit, sich weiterzuentwickeln!“
Überall erleben wir neuen Zusammenhalt. Viele Menschen lernen zum ersten Mal ihre Nachbarn kennen, obwohl sie schon seit Jahren nebeneinander leben. Menschen gehen füreinander einkaufen. Diese neue Form des Miteinanders braucht es auch in der Energie- und Klimapolitik. In den vergangenen Monaten und Jahren wurde dort mehr und mehr unversöhnlich miteinander gestritten. Das Verständnis für die Sichtweise des anderen ist völlig verlorengegangen. Stromnetzbau, Hambacher Forst, Windkraftanlagen – es gibt unzählige Beispiele dafür.
Nach Corona muss alles anders sein. Wir dürfen nicht länger Monate vergeuden und damit Strukturen aufs Spiel setzen. Wenn wir hier nicht entschieden im Sinne zukünftiger Generationen handeln, schaffen wir selbst die Grundlage für die nächste globale Herausforderung – und dagegen werden wir keinen Impfstoff entwickeln können.
Auch beim Klimawandel gibt es No-regret-Maßnahmen
Bei Corona gab und gibt es ganz einfache Vorsichtsmaßnahmen wie das Vermeiden des Händeschüttelns, das Abstandhalten, das In-den-Arm-Niesen, gut die zu Hände waschen und den Einsatz von Desinfektionsmitteln. Auch im Klimaschutz gibt es diese „Vorsichtsmaßnahmen“, die völlig undramatisch im Verhältnis zu der drohenden Umsiedlung ganzer Millionenstädte an den Küsten sind – sogenannte No-regret-Maßnahmen.
Die erste und wichtigste dieser Maßnahmen ist der Ausbau der erneuerbaren Energien – auch in Deutschland. Oftmals wird diese Maßnahme damit abgetan, dass wir in Deutschland nicht genug Potenzial für erneuerbare Energien hätten. Das ist völlig falsch. Als Beispiele sind diese Studie sowie eine weitere Untersuchung zu nennen.
Das Potenzial zur Sicherung der gesamten Energieversorgung aus erneuerbaren Energien ist ohne Zweifel in Deutschland da. Das optimale Energiesystem entsteht jedoch durch eine Mischung aus Wind onshore, Wind offshore, Biomasse, Effizienz sowie Im- und Exporten.
Daher brauchen wir – bei allen sinnvollen Maßnahmen zur Senkung des Energieverbrauchs – auch nicht alle Häuser zu Niedrigenergiehäusern umzubauen, um klimaneutral zu werden, sondern wir müssen ermitteln, was lokal und regional sinnvoll ist. In Ostfriesland zum Beispiel kann das bei Einzelhäusern eine Kombination aus kleinen Windkraftanlagen, PV und elektrischen Direktheizungen sein. Im Schwarzwald bieten sich Nahwärmenetze auf der Basis von Biomasse an, wie sie die EWS Schönau seit Jahren bauen. Besonders hohe Akzeptanz genießen lokale Lösungen in Bürgerhand – in erster Linie kommunal, aber auch genossenschaftlich.
Die Elektrifizierung muss ein Schwerpunkt sein
Die zweite Maßnahme ist die Steigerung des Anteils elektrisch angetriebener Prozesse. Diese haben physikalisch bedingt eine höhere Effizienz als thermisch angetriebene Prozesse. Durch die größere Effizienz wird parallel der Endenergieverbrauch sinken, verbunden mit einem steigenden Stromverbrauch. Es ergibt daher Sinn, ganz massiv elektrische Antriebe zu fördern. Entscheidend ist der Antriebsstrang, nicht die Frage, ob es rein batterieelektrische Fahrzeuge sind oder ob Wasserstoff für die Reichweitenverlängerung eingesetzt wird.
Die dritte Maßnahme ist „Nutzen statt abregeln“. Es besteht die Riesenchance, klimaneutral erzeugte Stromüberschüsse aus erneuerbaren Energien in den anderen Sektoren zu nutzen. Dazu bedarf es der notwendigen Infrastrukturen – vor allem Batterien als Kurzfristspeicher, Wasserstoff als Langfristspeicher sowie Wärmenetze und Wärmespeicher. Das Klimaschutzprogramm 2030 legt richtig fest, dass wir eine gemeinsame Strom- und Gasnetzplanung brauchen. Im Koalitionsvertrag ist der netzkonforme Ausbau der erneuerbaren Energien gefordert. Im Einklang mit dem Klimaschutzprogramm kann dies nur bedeuten, dass die Strom- und die Gasnetze gemeinsam (!) betrachtet werden, regional und kommunal erweitert um die Fern- und Nahwärmenetze. Neben dem Lastmanagement werden Power-to-Heat-Anlagen im Fall von Stromüberschüssen sowie Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen im Falle von Strombedarfen benötigt.
Entbürokratisierung für CO2-freie Erzeugung
Die vierte Maßnahme besteht darin, eine einfache Regel durchzusetzen: Bei Nullemission von fossilem CO2 dürfen keine Abgaben anfallen und bürokratischen Hemmnisse blockieren. Die klimafreundliche Stromerzeugung und -verwendung muss für alle schnell, einfach und kostengünstig sein. Wir schlagen vor, jetzt zügig das „Clean Energy Package“ der EU als Sofortmaßnahme in nationales Recht umzusetzen und mit einem Programm für Repowering und mit klaren Ausnahmen für die Ausschreibung von Windenergieprojekten bis sechs Windkraftanlagen (de-minimis-Regel) zu flankieren.
Das neue, transformierte Energiesystem wird unter Beachtung der externen Umweltschäden sehr viel kostengünstiger als das bestehende System sein. Deswegen müssen die in Kürze notwendigen Konjunkturprogramme in Deutschland und der EU Programme für den Klimaschutz sein! Damit werden Arbeitsplätze geschaffen und Kosten für den Import von fossilen Energien neben den externen Kosten der Umweltverschmutzung vermieden. Besondere transnationale Projekte bieten sich für den beschleunigen Aufbau der Offshore-Windenergie verbunden mit einer integrierten Wasserstoff-Wirtschaft an. Dies ist auch ein wichtiger Beitrag zur Solidarität in Europa. Das Motto muss lauten „fast and clean“ und nicht das Subventionieren klimaschädlicher Technologien, wie es offenbar Teilen der Union vorschwebt.
Rettungspaket auch für die Windkraft
Seitens der Industrie wird im Zusammenhang mit dem Kohleausstieg eine Strompreiskompensation ins Gespräch gebracht. Unseres Erachtens wäre diese Kompensation nur notwendig, wenn eine Mangelsituation durch einen zu geringen Ausbau erneuerbarer Energien entsteht. Die beste Strategie gegen zu hohe Strompreise ist: Bauen, bauen, bauen – und zwar Windkraft- und PV-Anlagen.
Eine weitere Schlussfolgerung aus der Pandemie sollte
sein, dass wir nicht nur eine Basisindustrie in der EU für Medizintechnik und
Pharmazie brauchen. Auch die Erneuerbare-Energien-Industrie ist systemrelevant. Das heißt, um es
konkret zu machen: Wir brauchen jetzt ein wirksames Rettungspaket für die deutsche Windindustrie, ein Programm,
um den Wettbewerbsvorteil im Bereich Wasserstoff
in Europa zu halten sowie ein Programm für eine neue Solarindustrie in Europa. Dann hätten wir die richtigen
Schlussfolgerungen aus der gegenwärtigen Krise gezogen.