Standpunkte Energiewende und Industriepolitik sind keine Gegensätze mehr – sie bedingen sich

Warum Patrick Graichen die Zeit für eine Überwindung des Lagerdenkens bei der Energiewende für gekommen hält, begründet er in seinem Standpunkt.

von Patrick Graichen

veröffentlicht am 18.07.2017

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Lange Zeit war die Energiewende vor allem ein klimapolitisches und – ja auch – ideologisches Projekt. Genau deshalb war es in Teilen von Wirtschaft und Gesellschaft umstritten, und das ist es hier und da gewohnheitsmäßig immer noch: Auf der einen Seite standen diejenigen, die den Planeten retten wollten und deshalb einen steigenden CO2-Ausstoß sowie Gefahren durch Atommüll und Super-GAUs nicht akzeptieren konnten – koste es, was es wolle. Auf der anderen Seite des Grabens standen diejenigen, die die wirtschaftliche Basis des Industriestandorts Deutschland durch das teure und gefährliche Experiment namens Energiewende gefährdet sahen – das deshalb möglichst rasch beendet werden sollte.


Es ist Zeit, dieses Lagerdenken zu überwinden. Denn Klimaschutz und günstige Energie als Motor für eine prosperierende Wirtschaft sind längst keine Gegensätze mehr. Vielmehr bedingen sie sich inzwischen. Ich wage die Prognose, dass viele, die die Energiewende noch vor fünf Jahren als Kostentreiber sehr skeptisch gesehen haben, sie in fünf Jahren als Basis für ihre Geschäfte nutzen. Für Deutschlands Wirtschaft birgt das ungeahnt Chancen.


Wind- und Solarstrom werden immer billiger


Warum? Die ersten Monate dieses Jahres haben gezeigt, dass Wind- und Solaranlagen in Deutschland in wenigen Jahren den billigsten Strom liefern werden – die Ergebnisse der Ausschreibungen für Wind Offshore, Wind Onshore und Solar lagen sämtlich zwischen fünf und sechs Cent Förderung pro Kilowattstunde, und weitere Kostensenkungen sind absehbar. Die Kosten sinken allerdings nicht nur bei uns und in unseren Nachbarländern, sondern auch und vor allem weltweit. Den billigsten Solarstrom (zwei Cent pro Kilowattstunde) aus der weltweit größten Anlage (1,2 Gigawatt, so groß wie ein Atomkraftwerk) wird es ausgerechnet in Abu Dhabi geben. Und in den ölexportierenden Ländern ist man unverdächtig, etwas aus ideologischen Gründen zu tun, hier geht es ums Geschäft.


Das Solarkraftwerk in Abu Dhabi wird von einem Unternehmen aus Indien gebaut – auch kein Land, das bisher Vorreiter der Energiewende ist. Aber indische Unternehmer wie Tata beweisen Mut für wirtschaftliche Entwicklungen und Visionen.


Deutsche Firmen sollten international ihre Chancen nutzen


Jetzt, wo der globale Energiewende-Markt abhebt, sollten auch Unternehmen aus Deutschland das internationale Energiewende-Geschäft viel stärker suchen als bisher. Viele Voraussetzungen sind gut: Mit den hohen Anteilen von Wind- und Solarstrom an manchen Tagen lernen wir hierzulande heute das, was morgen überall gebraucht wird: Den Auf- und Umbau eines Stromsystems unter dem Paradigma der Flexibilität sowie den Abschied von veralteten Konzepten wie dem der Grundlastkraftwerke. Der angemessene Umgang mit Wind- und Solarstrom wird zum Geschäftsmodell für viele, wenn nicht alle Stromsysteme weltweit – mit vielen kreativen Lösungen: auf der Angebotsseite mit flexibilisierten Kraftwerken als Lückenfüller bei Flaute und Dunkelheit, auf der Stromnachfrageseite durch Smart-Demand-Konzepte (intelligenter Verbrauch), in digitalen Stromnetzen und natürlich bei der Einbindung von Stromspeichern (die übrigens auch immer billiger werden). Mit ihren weltweiten Service- und Vertriebsnetzen haben viele Unternehmen aus Deutschland hier gute Ausgangsbedingungen.


Wer die Energiewende zu Hause verteufelt, schadet dem Geschäft


Glaubwürdigkeit im Vertrieb von „Energiewende-Technologie Made in Germany“ wird aber kaum erlangen, wer die Energiewende im Heimatmarkt verteufelt. Das ist schlicht geschäftsschädigend. Deshalb ist es Zeit, die tradierte Geschichte von der teuren Energiewende zu beerdigen. Denn sie ist die Geschichte der Vergangenheit. Eine neue Geschichte könnte so gehen: Die Energiewende in Deutschland ist teuer gewesen. Denn Deutschland hat einen großen Teil der Rechnung für die globale Technologieentwicklung bei Wind und Photovoltaik bezahlt. Heute bekommen wir in Deutschland und weltweit Wind- und Solaranlagen deshalb für sehr wenig Geld. Und in Kombination zum Beispiel mit flexiblen Kohle- und Gaskraftwerken sind Stromsysteme mit 50 bis 60 Prozent Wind- und Solarenergie auch sehr zuverlässig in der Versorgung. Das zeigt nicht zuletzt Deutschland, wo im Zuge der Energiewende die Anzahl der Stromausfall-Minuten immer weiter zurückgegangen ist – und in manchen Netzregionen die 50 Prozent schon überschritten sind.


Jetzt geht es um Energieeffizienz


Agora Energiewende hat kürzlich das „Big Picture 2030“ der Energiewende vorgelegt. Es ist eine Agenda dafür, wie wir die zweite Phase der Energiewende erfolgreich gestalten und damit unsere Zwischenziele des Pariser Klimaabkommens erreichen. Energieeffizienz spielt dafür eine wesentliche Rolle. Denn so viele Windkraftwerke, Solaranlagen und Stromnetze, wie wir ohne Effizienz bräuchten, könnten wir kaum bauen, um neben dem Strom auch den Wärme- und Verkehrssektor mit Erneuerbaren Energien zu versorgen.


Aus industriepolitischen Erwägungen gibt es aber noch einen zweiten Grund, in Effizienz zu investieren: Mit wind- und sonnenreichen Ländern, in denen die erneuerbare Stromerzeugung vielfach nur zwei Cent pro Kilowattstunde kosten wird, kann das wenig sonnige und nur mäßig windige Deutschland kaum konkurrieren. Es sei denn, unsere Unternehmen schaffen es, mehr aus einer Kilowattstunde herauszuholen als ihre internationale Konkurrenz.


Aus all diesen Gründen sind Energiewende und Industriepolitik keine Gegensätze (mehr), sondern sollten künftig Hand in Hand gehen. Dazu haben wir einen Vorschlag vorgelegt: eine Charta für eine Energiewende-Industriepolitik, einen Pakt zwischen Wirtschaft und Politik. Im Kern soll dieser darin bestehen, dass die Politik der Industrie bezahlbare Energiepreise garantiert und die Industrie die nationalen und europäischen Energie- und Klimaziele unterstützt und ihren Teil zur Umsetzung beiträgt. Die Chancen nutzen, statt rückwärtsgewandte Debatten-Rituale zu pflegen – das sollte, gerade im Lichte der weltweiten Entwicklungen, unser Motto für die zweite Phase der Energiewende sein.


Patrick Graichen ist Direktor des Berliner Thinktanks Agora Energiewende


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