Standpunkte EU-Kommission will neue Nord-Stream-2-Regeln für Außenpolitik nutzen

Vor allem Osteuropa ist gegen den Bau des zweiten Strangs der Ostseepipeline. Die EU-Kommission plant nun Eingriffe in den Betrieb. In seinem Standpunkt analysiert Severin Fischer von der ETH Zürich, warum die geplanten Regeländerungen einen Bruch darstellen und riskant sind.

von Severin Fischer

veröffentlicht am 13.11.2017

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Die Ostseepipeline Nord Stream 2 steht bislang vor allem unter außen-, sicherheits- und klimapolitischen Gesichtspunkten in der Kritik. Obwohl die politische Diskussion bereits seit längerer Zeit kontrovers geführt wird, haben es die Gegner des Projekts bisher verpasst aufzuzeigen, wie sie eine Verwirklichung des Pipelinebaus rechtlich stoppen wollen. Nachdem die erforderlichen Genehmigungsverfahren in Deutschland und anderen EU-Mitgliedstaaten bereits weit fortgeschritten sind, erscheint eine Blockade zunehmend schwierig. Die EU-Kommission versucht nun, im Rahmen der Energiemarktregulierung neue Hürden aufzubauen.


Seit 2015 planen Gazprom und fünf weitere Partnerunternehmen aus EU-Mitgliedstaaten (Uniper, Wintershall, OMV, Shell, Engie) einen weiteren Zwillingsstrang Pipelineröhren durch die Ostsee zu verlegen, um die Kapazität der bestehenden Gasleitung Nord Stream zu verdoppeln. Ziel des Vorhabens ist es, den direkten Zugang zu Russlands größtem Kunden Deutschland auszuweiten und weite Teile Europas ohne Nutzung des Transitkorridors über die Ukraine versorgen zu können. Insbesondere in Mittel- und Osteuropa, aber auch in einigen Anrainerstaaten des Baltikums und in Brüssel formiert sich seit Jahren der Widerstand gegen das Projekt. Kritik wird dabei vor allem an Deutschland geäußert, das den Bau der Pipeline unterstütze.


Baustopp bislang nicht durchsetzbar


Einen Baustopp konnte die EU-Kommission bislang aus zwei einfachen Gründen nicht erwirken. Erstens beruht das Finanzierungsmodell von Nord Stream 2 nicht auf Zuschüssen aus öffentlichen Mitteln der Bundesrepublik oder der EU, die durch politische Interventionen gekürzt oder gestrichen werden könnten. Zweitens existiert auch kein zwischenstaatliches Abkommen zwischen Deutschland und Russland über Gaslieferungen, das einer Überprüfung von Seiten der Kommission hätte standhalten müssen. Die Entwickler der Pipeline müssen sich zwar an deutsches und internationales Umweltrecht in der Ostsee halten. Dies scheint jedoch keine unüberwindbare Hürde darzustellen.


Auf EU-Ebene geriet die Kommission in den vergangenen Monaten zunehmend unter Druck, endlich Maßnahmen gegen den Bau der Gasröhren einzuleiten. Ähnlich wie den Mitgliedstaaten, sind auch der EU in diesem Fall die Hände gebunden, sollten nicht neue Sanktionen gegen Russland ergriffen werden. Lediglich kurze Abschnitte der Leitung liegen in deutschem und dänischem Territorialgewässer. Der Großteil befindet sich in der ausschließlichen Wirtschaftszone der Staaten – mit geringem Einfluss durch nationale oder EU-Gesetzgebung. Entsprechend bemühte sich die Kommission um den aus ihrer Sicht erfolgversprechendsten Weg: die Energiemarktregulierung.


Zentraler Baustein europäischer Energiemarktregulierung ist das „Dritte Energiebinnenmarktpaket“ mit den entsprechenden Maßnahmen zur Entflechtung von Leitungsbetrieb und Produktion beziehungsweise Endkundengeschäft, dem Leitungszugang für Dritte und einer transparenten Gestaltung von Nutzungsentgelten. Diese Regelungen fanden bislang jedoch lediglich für Leitungen innerhalb der EU, also zwischen EU-Mitgliedstaaten Anwendung. Obwohl der interne Rechtsdienst der Kommission eine Anwendung auf Importpipelines ausgeschlossen hatte, erklärte die Kommission im Frühjahr 2017, dass im Falle der Nord Stream 2-Pipeline eine Rechtslücke zwischen EU-Recht und der Rechtsgestaltung Russlands in der Ostsee vorliege. Diese könne nur durch ein Abkommen zwischen der EU und Russland aufgelöst werden, das die Anwendung europäischen Rechts für die gesamte Pipeline beinhalten würde.


Nachdem sich im Ministerrat für diese Sichtweise keine Mehrheit abzeichnete und auch der interne Rechtsdienst des Rates eine solche Interpretation ablehnte, sah sich die Kommission gezwungen, eine weitere Umdeutung der Situation vorzunehmen. Daher schlug sie am 8. November 2017 vor, die EU-Gasmarktrichtlinie dahingehend zu ändern, dass fortan auch Pipelines aus Drittstaaten bereits vor Erreichen des „Entry Points“ in den europäischen Gasmarkt die Bedingungen der EU-Gasmarktrichtlinie erfüllen sollten. Ausnahmegenehmigungen für bestehende Leitungen könnten jedoch ausgestellt werden. Daraus entstehende Konflikte mit Drittstaaten, würden von der Kommission über den Weg der Verhandlung von internationalen Rechtsabkommen gelöst werden. Im Ergebnis bietet die Kommission also an, ein Problem zu lösen, das erst durch die Implementierung der von ihr vorgeschlagenen Maßnahmen zu entstehen droht.


Gegenwehr in einigen Mitgliedsstaaten zu erwarten


Das Vorgehen der Kommission hat eine Reihe von Auswirkungen für die weitere Debatte über Nord Stream 2. Erstens hat sich der Fokus der politischen Kontroverse von der Frage des Baus zu einer Frage des Betriebs der Pipeline gewandelt. Es geht nun also darum, unter welchen Bedingungen Gas durch die Leitung fließen soll. Zweitens wird erkennbar, dass die Kommission ihre vorgeschlagenen Maßnahmen zur Organisation des EU-Binnenmarktes nun für außenpolitische Zwecke zu nutzen versucht. Dies erscheint als Bruch mit bisherigen Traditionen und dürfte für die Zukunft auch Auswirkungen auf andere Bereiche haben. Die Überordnung des eigenen Rechtssystems in internationalen Prozessen dürfte im politischen Verhältnis zu vielen Nachbarn nicht folgenlos bleiben. Drittens scheint absehbar, dass eine Anwendung des EU-Energiebinnenmarktrechts auf alle Importpipelines in vielen Mitgliedstaaten auf Gegenwehr stoßen wird. Sowohl die Mittelmeeranrainer als auch Großbritannien werden diese Herangehensweise kaum unterstützen können, wären sie doch selbst direkt oder indirekt betroffen.


Für eine neue deutsche Bundesregierung wird sich ebenfalls die Frage des Umgangs mit Nord Stream 2 stellen. Mit Blick auf die möglichen Folgewirkungen einer Umsetzung der Kommissionsvorlage erscheint dieser Weg riskant. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass davon nicht der Bau, sondern lediglich der Betrieb der Pipeline betroffen wäre. Es erscheint daher sinnvoller, auf einen funktionierenden Wettbewerb im europäischen Gasmarkt zu achten und energiewirtschaftlich begründeten Versorgungssicherheitsbedenken der Nachbarn in Mittel- und Osteuropa durch entsprechende Sicherheitsgarantien zu begegnen.

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