Bildung und Gesundheit gehören in Deutschland zu den „B-Ministerien“ und werden in Koalitionsverhandlungen zum Schluss vergeben. Mit Bildung und Gesundheit, so heißt es bei den Parteien, lassen sich keine Wahlen gewinnen, sondern allenfalls verlieren. Das ist falsch. In Zeiten von Individualisierung, Wandel der Arbeitsgesellschaft und einer zunehmend unsicher werdenden Welt sind es die sogenannten weichen Themen, die über unser Wohlbefinden entscheiden. Gesundheitspolitik als Gesellschaftspolitik ist zentral in einer gespaltenen Gesellschaft.
Die „Coronakrise“ ist dafür das aktuellste Beispiel. Mehrfach geriet unser Gesundheitssystem in der Covid-Pandemie an die Grenzen der Belastbarkeit. Gnadenlos hat Corona die Defizite in der medizinischen Versorgung offengelegt. Auch wenn wir vorerst das Schlimmste überstanden haben dürften: Diese Krise wird längst nicht die letzte gewesen sein und die nächste wird womöglich noch schwerer zu bewältigen sein. Wir müssen uns deshalb für neue Bedrohungen in Zukunft deutlich besser rüsten. Das stellt auch das Sondierungspapier der Ampel-Koalitionäre fest. Ein vorsorgendes Gesundheitssystem setzt auf einen starken, digitalen Öffentlichen Gesundheitsdienst ebenso wie auf Prävention und Vorsorge. „Predictive Maintenance“, vorausschauende Wartung, muss zum Prinzip einer krisenfesten und nachhaltigen Gesundheitspolitik werden. Zumal in einer immer älter werdenden Gesellschaft neue Herausforderungen auf uns zukommen, was die Kapazitäten der medizinischen Versorgung betrifft. Lebenswelten und Lebensstile verschmelzen zunehmend. Bildung, soziale Faktoren, Wellbeing und Gesundheit gehören zusammen. Erforderlich ist eine Neuaufstellung unseres Gesundheitssystems aus einem Guss – von der Vorbeugung bis zur Nachsorge, von der Geburt bis zum Hospiz.
Zu viele Parallelstrukturen und Verantwortlichkeiten
Gesundheit ist mehr als Medizin. Gesundheitsrelevante Bedingungen sind auch das Klima, unsere Mobilität und die Lebensqualität unserer Städte. Jedes der insgesamt 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen hat Folgen für die Gesundheit von Mensch und Tier. Wir müssen Gesundheit in Zukunft stärker gesellschaftlich denken. Wir können bei etlichen Krankheiten die Sterblichkeit senken. So ist die Sterblichkeit bei Herzinfarkten wesentlich höher als in anderen europäischen Ländern. Etwa 75.000 sterben jährlich an den Folgen einer Sepsis, 20 bis 25 Prozent davon sind vermeidbar. Bei den Covid-19-Erkrankten ist eine virusbedingte Sepsis Ursache für die meisten Todesfälle.
Eine der zentralen, wenn nicht die eigentliche Ursache dieser Misere: Es gibt zu viele Parallelstrukturen, zu viele unterschiedliche Verantwortlichkeit mit zu geringer gegenseitiger Information für meist eng begrenzte Gebiete der Gesundheitsversorgung. Das fängt bei der Prävention an. Grundsätzlich ist das Bundesministerium für Gesundheit zuständig, aber nicht, wenn es um Prävention am Arbeitsplatz geht, diese fällt in den Kompetenzbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Um Prävention im Bereich Verkehrsunfälle kümmert sich das Verkehrsministerium, wenn es um den Unterpunkt Alkohol am Steuer geht, kommt dann auch wieder das BMG über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ins Spiel. Unterschiedliche Verantwortlichkeiten gibt es auch auf dem Feld der Rehabilitation. Die Sicherstellung der Versorgung wird über die Kassenärztlichen Vereinigungen geregelt, Forschung über das Ministerium für Bildung und Forschung, Gesundheitswirtschaft natürlich über das Wirtschaftsministerium. Den Bereich Digitalisierung der Medizin inklusive Datenschutz und Datennutzen wiederum beansprucht das BMG für sich. In Landwirtschaft und Forsten ist alles noch anders geregelt.
Ressourcen besser nutzen
Diese Zuständigkeitsverteilung macht zwar Sinn, aber alle Kompetenzen mit Gesundheitsbezug müssen gebündelt und vor allem koordiniert werden. Es gilt, die vorhandenen Ressourcen besser zu nutzen. In den beginnenden Koalitionsverhandlungen kann die Gesundheitspolitik neu ausgerichtet, auf jeden Fall synchronisiert werden. Nach Verteilung der Ressorts und Besetzung der Spitzenpositionen ist es dafür zu spät. Es ist Zeit für ein neues unabhängiges gesundheitspolitisches Kompetenzzentrum! Forderungen der Grünen nach einem „Institute of Health“ oder der FDP nach „Befreiung“ des RKI könnten Sinn machen. Ähnlich wie der Normenkontrollrat die Bundesregierung seit Jahren bei den Themen Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung berät, würde ein externes unabhängiges Institut das Bundesgesundheitsministerium und die Öffentlichkeit bei Fragen wie Prävention und Gesundheitskompetenz beraten. Die Pandemie hat gezeigt, wie sich Dinge beschleunigen und entbürokratisieren lassen. Gute Gesundheitspolitik trägt zur Integration einer heterogener gewordenen Gesellschaft bei. Einer neuen vom BMG geförderten Studie zufolge sehen sich fast 60 Prozent der Deutschen im Umgang mit gesundheitsrelevanten Informationen vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt. Das mehrfach geforderte Schulfach Gesundheit könnte die zunehmende Distanz zwischen den gesellschaftlichen Gruppen und Themen reduzieren und die Gesundheitskompetenz der Bürger:innen erhöhen.
Das Vertrauen der Deutschen in ihr Gesundheitssystem ist Umfragen zufolge in der Pandemie gewachsen, nicht jedoch das in die Politik. Soll sich das ändern, muss Gesundheitspolitik mehr leisten als bislang. Sie muss zur Krisenfestigkeit und Nachhaltigkeit der gesamten Gesellschaft beitragen.
Prof. Dr. Axel Ekkernkamp ist Universitätsprofessor in Greifswald, Geschäftsführer Medizin der BG Kliniken, Ärztlicher Direktor und Geschäftsführer des Unfallkrankenhauses Berlin. Dr. Daniel Dettling leitet das von ihm gegründete Institut für Zukunftspolitik. Beide sind Mitglieder des Ayinger Gesprächskreises.