Standpunkte Klimaschutz braucht neue Technologien und neues Denken

Klimaschutz geht nur mit, nicht ohne die Industrie, unterstreicht Barbara Minderjahn. Nur durch technische Innovationen könne es gelingen, die Klimaschutzziele zu erreichen und die industrielle Wertschöpfung in Deutschland und Europa zu sichern.

von Barbara Minderjahn

veröffentlicht am 21.09.2017

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Der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, hat in seiner Rede zur Lage der Union in der vergangenen Woche die Vorlage einer neuen industriepolitischen Strategie angekündigt. Diese soll darauf abzielen, durch verschiedene Maßnahmen die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu stärken und zu steigern. Durch mehr Investitionen, insbesondere in Schlüsseltechnologien, und Innovationen sollen Wachstum und zukunftsfähige Arbeitsplätze generiert werden, wobei vor allem die Nutzung der Digitalisierung und die Umstellung auf nachhaltige Produktion die europäische Industrie in eine globale Vorreiterstellung bringen sollen.


Die Aufgabe, die Kommissionspräsident Juncker hiermit zu Recht in den Vordergrund rückt, sollte längst eine Selbstverständlichkeit sein: Wir wollen als Gesellschaft den Klimawandel verhindern, ohne auf Stabilität und Wohlstand zu verzichten.


Das ist in zweierlei Hinsicht eine große Herausforderung: Erstens fehlen uns für die weitgehende Treibhausgasneutralität in Industrie und Gesellschaft derzeit noch die technologischen Lösungen, denn bekannte Technologien wie die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien reichen hierfür nicht aus. Zweitens haben wir auch für die andere Seite der Medaille – den Erhalt von Wohlstand und Stabilität – noch keinen Königsweg gefunden. Das bescheinigt etwa das aufgrund unsicherer politischer Rahmenbedingungen seit Jahren schlechte Investitionsklima in den energieintensiven Industrien.


Klimaschutz geht nur mit der Industrie


Es weiß also noch niemand, wie wir die vor uns liegenden Herausforderungen meistern können. Wir wissen jedoch schon, dass uns dies nur mit den technologischen Potenzialen und der Innovationskraft unserer Industrie gelingen wird. Um unseren klimapolitischen  Anspruch zu realisieren, müssen wir jetzt schon „Industrie 5.0“ denken. Sie ist mehr als digital, sie wird vernetzt in effektiven Systemen die Grenzen nationaler Politik hinter sich lassen müssen und einen ganz anderen Umgang mit Ressourcen, Energie- und Wirtschaftsbeziehungen entwickeln.


Darin liegt eine große Chance, wenn sich die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft dieser Zukunft positiv und optimistisch stellen und politisch die richtigen Rahmenbedingungen gesetzt werden. Die deutsche Industrie ist hierbei grundsätzlich gut aufgestellt. Sie forscht bereits heute an CO2-neutralen Verfahren zur Stahlerzeugung mittels Wasserstoff, an chemischen Möglichkeiten, CO2 als Rohstoff zu binden (CCU), an technologischen Lösungen, erneuerbaren Strom in andere Energieformen zu wandeln (Power-to-X), an umfangreichen Bioraffinerieprojekten, um Erdöl als notwendigen Ausgangsstoff chemischer Prozesse einzusparen, an innovativen Abwärmekonzepten, in die auch kommunale Unternehmen eingebunden werden können, an verbesserten Recycling- und Wiederverwendungsprozessen und vielem mehr.


Mit diesen Vorhaben besitzen die Unternehmen auch wichtige Schlüsselkompetenzen bei der gewünschten Sektorenkopplung. Die Eweiterung der Industriestandorte um Zukunftstechnologien wie CCU, Power-to-X, Speicher oder den Einsatz biogener Rohstoffe oder Wasserstoff eröffnet wichtige Schnittstellen zu parallelen Energiesystemen und trägt damit zur Flexibilisierung und Systemstabilität bei.


Daneben können industrielle Zentren Emissionen aus anderen Standorten aufnehmen (CCU-Technologien zur Umwandlung von CO2 in synthetische Kraftstoffe, synthetisches Erdgas und CO2-Nutzung als chemischer Rohstoff) oder Koppelprodukte als Grundlage für die Energieversorgung in anderen Sektoren zur Verfügung stellen – etwa bei der dezentralen Wasserstoffversorgung oder der Abwärmenutzung für kommunale Raumwärme.


Treibhausgasneutralität erfordert Industrieakzeptanz …


Mit Blick auf das Pariser Abkommen wird die Energiewende in den Wahlprogrammen fast aller Parteien als positive Aufgabe deutscher Politik aufgefasst. Auch alle großen Industrieunternehmen haben in ihrer Kommunikation und ihrer Unternehmensstrategie längst eine konstruktive Haltung gegenüber der internationalen Vereinbarung zum Klimaschutz verdeutlicht. Das gilt auch und vor allem nach dem angekündigten Austritt der Vereinigten Staaten aus dem Pariser Abkommen.


Die Reduktion von Treibhausgas-Emissionen war in der Vergangenheit, ist jetzt und wird in kommenden Generationen unerlässlich sein, um die gesamtgesellschaftliche Aufgabe des Klimaschutzes zu bewältigen. Der dafür nötige Strukturwandel kann aber nur unter Gesichtspunkten der ökologischen Effektivität und ökonomischen Effizienz zum Erfolg werden. Dabei dürfen physikalische Grenzen bestimmter Industrien nicht außer Acht gelassen werden.


Die Integration von erneuerbaren Energien über den Strombereich hinaus etwa ist ein richtiger Schritt. Er bringt angesichts der besonderen Bedürfnisse der Industrie aber auch technische Herausforderungen mit sich. Zum einen ist die Qualität des Stromangebotes aufgrund der Volatilität von Solar- und Windkraftanlagen für viele Industrieprozesse nicht ausreichend. Zum anderen gilt es, die Bereitstellung von industrieller Wärme auf Basis fossiler Ressourcen auf erneuerbare Energien umzustellen oder ganz neue Prozesse zu finden. Speichertechnologien und die Flexibilisierung von Industrieprozessen sind auf dem Weg in eine klimaneutrale Zukunft also ebenso unabdingbar wie weitere Forschungsanstrengungen – bspw. bei Hochtemperaturprozessen in der Petrochemie oder der Herstellung von Zement – um die Wärmebereitstellung auch in Zukunft absichern zu können.


Langfristig sind Effizienzsteigerungen und die Reduktion von Treibhausgasemissionen nur durch den vollständigen Neubau von Produktionsanlagen und die Umstrukturierung von Standorten zu erreichen. Das erfordert Milliardeninvestitionen, die über einen Zeitraum von 30 oder mehr Jahren abgeschrieben werden und durch staatliche Förderprogramme kofinanziert werden sollten.


Diese große Anstrengung wird also Jahrzehnte in Anspruch nehmen und darf nicht durch technologische Denkverbote eingeschränkt werden. Sie kommt in ihrer Bedeutung und Anforderung einem neuen Wirtschaftswunder gleich. Technologiesprünge werden die Wertschöpfungsketten revolutionieren und historisch gewachsene Strukturen grundlegend verändern.


Dieses Verständnis erfordert eine zukunftsgewandte Haltung von Politik und Gesellschaft gegenüber der Industrie. Der VIK will den notwendigen Weg zur Kohlenstoffneutralität daher in diskursiver Partnerschaft mit Politik und Zivilgesellschaft gehen und über eine zukunftsgewandte Haltung eine neue Basis für industrielle Akzeptanz finden. Einen Anstoß dazu geben wir auf der VIK-Jahrestagung, auf der wir am 21. November 2017 in Berlin die notwendigen Schritte zur Treibhausgasneutralität in Industrie und Gesellschaft diskutieren.


… und eine kluge politische Flankierung


Der VIK sieht drei Handlungsfelder auf dem Weg zur Treibhausgasneutralität in der Industrie: Zunächst geht es um die absolute Reduktion der Emissionen derzeitiger Prozesse, wobei wir uns bewusst sein müssen, dass wir hierbei zum Teil bereits heute an physikalische Grenzen stoßen. Es ist daher zwingend notwendig, dass wir gleichzeitig an neuen, vollständig treibhausgasneutralen Technologien arbeiten. Darüber hinaus müssen wir uns auf die technologischen Aufgaben bei der Bekämpfung der Folgen des Klimawandels vorbereiten sowie Möglichkeiten eines aktiven Entzugs von CO2 aus der Atmosphäre ausloten.


Der mit diesen Aufgaben verbundene komplette Umbau unserer Industrielandschaft verlangt eine kluge politische Flankierung. Diese darf sich nicht nur auf eine zu Recht eingeforderte Verbindlichkeit und die mehr oder weniger willkürliche Festlegung von Reduktionszielen konzentrieren. Vielmehr muss sie berücksichtigen, dass die technologischen Träger des Umbaus in der Industrie jederzeit wettbewerbsfähig sind und zudem die investiven Freiräume haben, um die notwendigen Innovationen auch durchführen zu können.


Wir dürfen heute nicht verbauen, was wir morgen brauchen und jetzt noch nicht kennen können. Das betrifft nicht nur die Erforschung neuer Technologien, die neben planbaren Rahmenbedingungen auch auf eine nachhaltige finanzielle Förderung durch den Staat angewiesen ist. Es betrifft eben auch eine Innovationskultur, in der Offenheit für das noch nicht Bekannte und keinerlei Denkverbote gegenüber neuen Technologien herrschen. Und es betrifft den Erhalt industrieller Strukturen, aus denen die Ideen und Technologien kommen müssen. Das ist auch der Grund, warum die Schaffung eines Level Playing Fields für die im internationalen Wettbewerb stehenden Unternehmen nach wie vor einen wesentlichen Teil der Energie- und Klimapolitik darstellen muss.


Es bleibt festzuhalten: Die deutsche und europäische Industrie sind ein entscheidender Wegbereiter bei der Überwindung der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen und damit zum Erreichen eines CO2-Geleichgewichts in den nächsten Jahrzehnten. Damit sie dies bleiben kann, brauchen wir einen europäischen Klimaschutzpfad, der den Umbau der Industrie ermöglicht, statt sich ausschließlich auf das Festlegen von Effizienzzielen und CO2-Einsparschritten zu fokussieren. Und es braucht den Schulterschluss zwischen Gesellschaft, Politik und Industrie in allen Fragen der Klima- und Energiepolitik.


Barbara Minderjahn ist Geschäftsführerin des VIK Verband der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft e.V.

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