Die Klimaschutzpolitik musste sich in Deutschland und in der EU seit den 90er-Jahren gegen viele angestammte energiepolitische Glaubensbekenntnisse durchsetzen, um eine Erfolgschance zu haben. Sie traf nicht nur auf mangelnde Einsicht zum menschlichen Einfluss auf die Klimaerwärmung, sondern auch auf monopolistische Strommärkte und einen Subventionskodex der EU, der finanzielle Förderungen für erneuerbare Energien zu scheitern lassen drohte.
Aber diese Zeiten sind seit einigen Jahren vorbei. Nicht nur brach die Klimaschutzpolitik in Deutschland die erheblichen Widerstände von einst, wie der Verzicht auf die Nutzung der Atomenergie und der zunehmende Wettbewerb am Strommarkt exemplarisch zeigen. Auch gibt es in Deutschland viele organisierte und einflussreiche Interessen aus Unternehmen, Umweltverbänden und Wissenschaften pro Klimaschutz und Energiewende, die deren Fortkommen sehr begünstigen.
Klimaschutz ist – nicht nur in Deutschland und der EU – zu einer gigantischen, weil ganze Volkswirtschaften umspannenden Aufgabe geworden. Beispielweise waren die Klimaschutzpläne Deutschlands bis Mitte der 90er-Jahre zwar recht anspruchsvolle politische Willensbekundungen, aber im Wesentlichen ohne allzu viele unmittelbare Folgen für die THG-Emittenten. Für diese wird es seit einigen Jahren jedoch folgenreich. Denn der Staat (EU, Bundesregierung, einzelne Landesregierungen) beanspruchen, via „Sektorsteuerung“, jedem privaten Haushalt, Unternehmen und Gebietskörperschaft Beiträge mit einem bunten Strauß von Instrumenten abzutrotzen. Die staatliche Klimaschutzpolitik folgt dabei der hergebrachten stammesgesellschaftlichen Übung: Die Führung des Stammes gibt vor, was bis wann zu erreichen ist (ob demokratisch legitimiert oder nicht, spielt hier keine Rolle) und – was entscheidend ist: Sie übt auf die Stammesmitglieder unmittelbaren Zwang (Ordnungsrecht) aus oder gibt „Anreize“ in Gestalt von Subventionen – meist als Förderprogramme bezeichnet (mildere Variante) oder Steuern und sonstige Abgaben (härtere Variante), um den Beitrag der einzelnen Familie (des Sektors) zum Ziel des Stammes zu erreichen.
Dieser Ansatz ist in einer pluralistischen, offenen Gesellschaft nicht nur wenig erfolgversprechend, sondern auf Dauer auch für den Klimaschutz schädlich, denn die Sondersituation, Klimaschutz gegen vielfältige Interessen erst einmal im Prinzip durchzusetzen, gibt es nicht mehr. Aber nicht nur das: Folgende grundsätzliche Argumente sprechen gegen eine Klimaschutzpolitik nach stammesgesellschaftlichem Muster:
1. Während die Führung eines Stammes – angesichts einer überschaubaren Personen- und Familienzahl – regelmäßig eine gute Einschätzung darüber gewinnen kann, wer was verursacht, zu leisten vermag und wie leidensfähig er oder sie ist, verfügen weder Regierungen noch Parlamente oder gar die EU-Kommission auch nur über eine entfernte Chance, solcher Art Wissen in komplexen Gesellschaften und Wirtschaftszusammenhängen jemals zu erwerben.
2. Weil eine komplexe Gesellschaft und derer Viele für den Klimaschutz nicht nur in die richtige Richtung bewegt werden sollen, sondern bestimmte Ergebnisse bis zu einem bestimmten Jahr insgesamt zu erbringen haben, bleibt angesichts dieses unaufhebbaren Wissensdefizits nur eines: Staatlicherseits darf es keinen ordnungsrechtlichen Zwang, Subventionierung oder Besteuerung einzelner privater Haushalte, Unternehmen und Gebietskörperschaften geben, schon weil die Wirkung der Instrumente wegen der vielfältigen Wechselwirkungen nicht prognostizierbar Vor allem aber gilt: Politiker und Politikerrinnen geben nur vor, zu wissen, was zu tun sei.
3. Weil der Staat nicht weiß – in stammesgesellschaftlichen Kontexten gesprochen – wie leidensfähig seine Stammesangehörigen sind – genauer: welche Kosten diesen wegen der Klimaschutzanstrengungen jeweils entstehen, ist jede Aufteilung der THG-Emissionsminderungen auf nur statistische „volkswirtschaftliche Sektoren“ unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten willkürlich.
4. Indem sich der Staat dazu versteigt, die Sektoren jeweils mit konkreten Zielvorgaben für die THG-Emissionsminderungen, Maßnahmen und Instrumenten zu überziehen, macht er sich in einer parlamentarischen Demokratie mehr oder minder zur Beute der jeweiligen Interessen Betroffener – von der Braunkohlenwirtschaft und die Vertreter erneuerbarer Energien über den Verband der Automobilindustrie und die Umweltverbände bis hin zu diversen mehr oder minder wissenschaftlichen Organisationen, die von Forschungsaufträgen für eine detaillierte, auf die Steuerung einzelner Sektoren angelegte Klimaschutzpolitik zu profitieren hoffen.
Kurz: Es besteht die Gefahr, dass das starke Seil des deutschen und des EU-Klimaschutzbeitrages angesichts immer speziellerer Instrumente und ebensolcher Interessen in Gefahr gerät. Dröseln diese doch das Seil auf und machen es in den einzelnen Fäden oder gar Fasern für ihre eigenen Interessen angreifbar.
Was ist die Schlussfolgerung aus dieser Diagnose?
Kurz: Staaten, die dem stammesgesellschaftlichen Muster im Klimaschutz folgen, werden auf Dauer weder für den Klimaschutz erfolgreich sein, noch Einzelerfolge für diesen so kostengünstig wie möglich erreichen.
Was ist zu tun?
Anstelle sich in Detailmaßnahmen zu verstricken, die mit sehr „sektorspezifischen“ Instrumenten angestrebt werden, sollten Staaten eine klare mengenbezogene Begrenzung der jährlichen THG-Emissionen (in Tonnen) einführen, die zu bestimmten Jahren für den jeweiligen Staat oder die Staatengemeinschaft zu erreichen und staatlicherseits strikt zu überwachen sowie zu sanktionieren sind.
Die EU-Kommission sollte, zumal sie für den Außenhandel der EU zuständig ist, einen Vorschlag für die Begrenzung der auf den Binnenmarkt angebotenen Mengen fossiler Energien unterbreiten, der – nach Zustimmung des EU-Rates sowie des EU-Parlaments – für den EU-Binnenmarkt verbindlich würde. Der Vorschlag sollte zunächst (nach geltender Beschlusslage) ein Emissionsminderungsziel für Kohlendioxid bis 2030 um 40% gegenüber 1990 vorsehen. Das heißt, ab 2030 dürften in den Binnenmarkt 40% weniger Kohlenstoff (Kohlendioxid und Methan) aus Energieträgern verkauft werden. Dieser Deckel wäre dann alle fünf Jahre zu senken, um den EU-Beitrag zur globalen Minderung der THG gemäß Pariser Klimaschutzabkommen zu sichern. Die Berechtigungen, fossile Energien auf dem Binnenmarkt anzubieten, würde die EU-Kommission nach einem vorab festgelegten Verfahren versteigern, und diese Zertifikate könnten ihre Inhaber frei im Binnenmarkt handeln. Mit immer tiefer gesetztem Deckel für die Gesamtmenge der Zertifikate in den kommenden Jahrzehnten würden auch die dann steigenden Kosten für die THG-Emissionsminderung verursachergerecht, weil proportional zum Energieverbrauch, auf alle Verursacher im Binnenmarkt umgelegt – und zwar über steigende Nutzenergie- sowie Produktpreise.
Da die EU-Kommission oder die Mitgliedstaaten nicht irgendwelche individuellen Kontingente den Nutzern fossiler Energie zuwiesen, sondern Zertifikate als Berechtigungsscheine für den Verkauf verschiedener fossiler Energien (gemäß Treibhausgasäquivalent) frei handelbar machten, würde diese „Marktzertifikate für fossile Energieträger“ oder „Inverkehrbringenszertifikate“ steigende Preise für Energiedienstleistungen und energieintensiv erzeugte Waren hervorrufen, welche alle Unternehmen, Verbraucherinnen sowie Verbraucher sowie staatliche Einrichtungen jeweils verbrauchsproportional gleich beträfen, und zwar über die sich – entlang der Wertschöpfungsketten auf den in den Märkten – steigenden Nutzenergie- sowie Produktpreise.
In Deutschland wären angestammte Einzelregulierungen – wie eine Kerosinbesteuerung, die Klimagasemissionskomponente in der Mineralölbesteuerung, die Stromsteuer oder Subventionen für die energetische Gebäudesanierung, dann nicht mehr zu rechtfertigen. Sogar viele Subventionsbegehren für erneuerbare Energien würden sich in der heutigen Schärfe (abgesehen von sozial- oder speziellen wirtschaftspolitischen Überlegungen) nicht stellen, weil Vieles für erneuerbare Energien und Energiespartechnik von sich aus auch kurzfristig wirtschaftlich würde. Damit müssten sich weder die EU noch die Bundesregierung ständig neue – in ihrer Gesamtheit kaum beurteilbare – neue regulatorische Experimentierfelder erschließen.
Aber was treibt die öffentliche Diskussion an? Beispielsweise die Forderung, Mindestpreise für THG-Zertifikate im EU-Emissionshandel vorzuschreiben oder die Einführung einer Emissionssteuer für Kohlendioxid, wie diese jüngst die Monopolkommission forderte. Ich fühle mich dabei an meine Kindheit erinnert: „Wir bekommen den Klimaschutz nicht auf die Reihe – also machen wir etwas Anderes“: Analogon Kinderbastelstube oder Sandkasten: Weil uns etwas nicht gelingen mag, fangen wir an, etwas Anderes zu basteln.
Zur außenwirtschaftlichen Flankierung dieses Vorschlages verweise ich auf meinen Beitrag im „Standpunkt“ des Tagesspiegel Background Energie und Klima am 4. Oktober 2017.
Ich wundere mich nicht, dass mein Vorschlag in vielen Kreisen als unrealistisch oder einfach zu hart wirken mag: Unrealistisch deshalb, weil ein strikt wirkendes Instrument im politischen Alltagsbetrieb keine Chance habe. Zu hart deshalb, weil er Routinen im politischen Alltagsgeschäft stört, zumal es geeignet ist, heute mächtige Politiker und Politikerinnen sowie Interessenverbände zu entmachten. Denn wer nicht mehr die Verteilungsentscheidung darüber beherrscht oder zumindest maßgeblich beeinflusst, wer welche THG-Emissionsminderungsbeiträge bis wann zu erbringen hat, ist Verlierer im gewohnten politischen Geschäft.
Was gegen meinen Vorschlag spricht? Die permanenten Anreize der Politiker, sie müssten den gesamten Klimaschutz mit der Hybris des Obrigkeitsstaates steuern: von der mehr oder minder willkürlichen Verteilung der zu vermindernden THG-Emissionen in den makroökonomisch definierten Sektoren über naturale Maßnahmen zur Emissionsminderung („Was ist zu tun?“) und konkrete Instrumente (Wie bringe ich die Leute dazu, das von der Exekutive Gewollte zu tun“?) – denken Sie nur an die Vorschläge aus dem Klimaschutzprogramm 2050 der Bundesregierung.
Aber: Der Hund, der hinter dem Gartenzaun einen zufällig vorbeigehenden Passanten ankläfft, obwohl dieser überhaupt nicht die Absicht hat, in das Territorium des Hundes einzudringen, glaubt, er hätte den Passanten mit seinem aggressiven Kläffen vertrieben. Denken etwa Politiker, jegliche Verbesserungen der Welt seien von ihren vielfältigen Einzelaktionen abhängig? Nein, der Mensch ist evolutorisch viel weiter als ein Hund – oder sollte es zumindest sein!
Prof. Dr. Andreas Troge war Präsident des Umweltbundesamtes. Seit 1993 ist Troge Lehrbeauftragter für Umweltökonomie der Universität Bayreuth.