Die jüngsten Äußerungen der Bundesregierung zu Nord Stream 2 lassen einen aufschrecken: „Die Bundesregierung teilt nicht die Auffassung der EU-Kommission, wonach Nord Stream 2 „nicht zu den Zielen der Energie-Union beitrage“. Im Gegenteil, schreibt das Bundeswirtschaftsministerium, im Rahmen des Pipeline-Projekts könnten sogar neue Lagerstättenfelder in Russland für den europäischen Markt erschlossen werden.
Bereits beim Treffen der europäischen Energieminister im Juni war Deutschland durch sein lautes Schweigen zu Nord Stream 2 negativ aufgefallen. Mit der gespielten Zurückhaltung auf dem Ministerrat verfolgte die Bundesregierung die Strategie, der neuen Pipeline von Westsibirien nach Europa, die mittlerweile als rein deutsch-russisches Projekt gesehen wird, mit möglichst großer – vermeintlicher – Gleichgültigkeit zu begegnen. Frei nach ihrem Motto: „Nord Stream 2 ist ein rein privatwirtschaftliches Projekt“. Doch hinter den Kulissen ging es weniger schweigsam zu. So übte Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries (SPD) persönlich Druck auf die EU-Kommission aus und forderte, die Idee eines europäisch-russischen Rechtsrahmens für die Pipeline fallen zu lassen, um dem Projekt keine Steine in den Weg zu legen.
Dabei versucht die Europäische Kommission über das Verhandlungsmandat vor allem, die Spaltung der EU-Mitgliedstaaten zu überwinden – und Deutschland aus der Isolation zu holen. Denn inzwischen sehen nicht nur die osteuropäischen Mitgliedstaaten den geplanten Bau der Pipeline und das deutsche Agieren im Hintergrund als massiven Affront. Schließlich ist in Europa im Rahmen der Energie-Union vereinbart, einen offenen und wettbewerbsfähigen Energiebinnenmarkt zu schaffen, der Versorgungssicherheit gewährleistet und die Solidarität innerhalb der EU garantiert. Zudem hatten sich die europäischen Mitgliedstaaten im Lichte der russischen Besetzung der Krim und des folgenden Ukrainekonfliktes gemeinsam eine stärke Diversifizierung der europäischen Energieversorgung auf die Fahne geschrieben. Seit 2014 verfolgt die EU entsprechend das Ziel der Energie-Union als zentrales Element ihrer Energiepolitik. Die Energie-Union verfügt über fünf sich gegenseitig verstärkende und eng miteinander verknüpfte Dimensionen, mit denen größere Energieversorgungssicherheit, Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit sowie Diversifizierung der Erdgasbezugsquellen angestrebt werden. Ferner zählen die Senkung des Energiebedarfs sowie der Ausbau der erneuerbaren Energien zu den Prioritäten der Energie-Union. Dadurch soll die Abhängigkeit von importierten fossilen Brennstoffen verringert werden.
Nord Stream 2 steht diesen Zielen diametral entgegen. Denn statt die Gasquellen zu diversifizieren, würde damit Russlands ohnehin dominante Position auf dem europäischen Gasmarkt weiter gestärkt. Würde die Pipeline gebaut, könnten bis zu 80 Prozent der russischen Gasexporte in die EU über die Ostseeroute abgewickelt werden. Während Deutschland zum Zentrum der europäischen Gasversorgung werden könnte, wäre der Gastransport über den Landweg via Polen oder die Ukraine nahezu hinfällig. Hierdurch entstünde die Gefahr, dass Nord Stream 2 den europäischen Wettbewerb einseitig verschärfen und Gazprom als lachender Dritter in Monopolstellung in Europa agieren könnte: Russland würde zunehmend die gesamte Gasversorgungskette kontrollieren und damit unsere energiewirtschaftliche und mithin politische Abhängigkeit massiv erhöhen. Bereits jetzt hat Gazprom in der EU einen Marktanteil von rund 40 Prozent.
Der Alleingang der Bundesregierung stellt daher die deutsche Solidarität mit den EU-Mitgliedstaaten in Frage. Denn das politische Ziel des Kremls hinter Nord Stream 2 lautet schlichtweg „divide et impera“: spalte die EU und verhilf Gazprom zu einer marktbeherrschenden Stellung. Das jedoch ist das exakte Gegenteil dessen, was mit der Energie-Union angestrebt wird. Entsprechend mehren sich insbesondere die Stimmen aus den osteuropäischen Ländern, dass man bei anderen europäischen Projekten Solidarität von ihnen erwarte, während Deutschland bei diesem für sie hoch sensiblen Energieprojekt alles andere als solidarisch und im Sinne der Union agiere. Nicht zuletzt die jüngsten Beschlüsse aus den USA, die sich gegen Nord Stream 2 richten, beweisen, dass Deutschland zum Pipeline-Projekt nicht mehr schweigen darf, sondern Stellung beziehen muss. Auch deshalb muss Deutschland als treibender und verantwortungsbewusster Partner innerhalb der Energie-Union auftreten, statt das Vertrauen der europäischen Partner zu gefährden. Mehr noch: Die Bundesregierung muss darauf hinwirken, dass die Energie-Union zuvörderst als Klima-Union verstanden wird, das heißt als ein gemeinschaftliches Projekt der EU, das in erster Linie dem Klimaschutz verpflichtet ist.
Ohnehin ist fraglich, wie das Gazprom-Projekt mit der deutschen Russland- und Ukrainepolitik in Einklang zu bringen ist. Mit der Kapazitätserweiterung durch die zweite Pipeline auf dann über 100 Milliarden Kubikmeter würden sich die Transportwege für russisches Gas innerhalb Europas deutlich verändern, da – anders als gerne behauptet – kein signifikanter Anstieg der Gasnachfrage zu erwarten und der internationale Gasmarkt durch ein massives Überangebot geprägt ist. Schon jetzt stagniert der Gasverbrauch in der EU und wird durch die Energiewende sinken. Entsprechend hatte Gazprom bereits angekündigt, seine Gaslieferungen an die EU über die Ukraine ab 2019 – und damit dem anvisierten Datum für die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 – einzustellen. Damit würden der stark verschuldeten Ukraine Transitgebühren von rund zwei Milliarden Euro verloren gehen.
Bisher ist völlig offen, wie dieser Einnahmeverlust für das Land kompensiert werden soll. Zwar beteuert die Bundesregierung, dass Nord Stream 2 auch nach 2019 nicht zu Lasten der Gaslieferungen durch die Ukraine gehen dürfe. Auf die Frage jedoch, ob sie das auch vertraglich verankern wolle, findet das Bundeswirtschaftsministerium keine so klare Antwort – einen neuen Rechtsrahmen lehnt sie ja ohnehin ab. Einigungen zwischen der Ukraine und Russland über Transitgebühren durch Nord Stream 2 werden damit zusätzlich zur aktuellen Konfliktsituation erschwert. Zudem ist klar, dass die Ukraine ohnehin unabhängiger von Importen und Transiteinnahmen werden muss und es somit nicht im Interesse Deutschlands und der EU sein kann, sie weiter zu destabilisieren. Und schließlich untergräbt Nord Stream 2 die Bemühungen, das vollkommen marode ukrainische Gasnetz zu modernisieren. Auch das ist der Bundesregierung bewusst, sie verweist jedoch schlicht darauf, dass die Ukraine hierbei ihre Hausaufgaben nicht geleistet habe. Das alles macht deutlich: Die zusätzliche Unsicherheit über die Zukunft des Gastransits durch die Ukraine wird zu einem weiteren Investitionsrückgang führen. Letztendlich wird mit Nord Stream 2 die Konfliktsituation zwischen der Ukraine und Russland befeuert.
Dazu kommt: Eine Pipeline ist – anders als viele kleinere Lieferungen – ein riesiges Infrastrukturprojekt, das sich erst nach Jahrzehnten rechnet. Wenn eine Leitung erstmal liegt, dann liegt sie – und wird auch verwendet. Je größer also die Investitionen in fossile Infrastruktur sind, desto größer ist auch die Gefahr einer energiepolitischen Fehlsteuerung. Die Bundesregierung erklärt jedoch, sie hoffe, dass durch die neue Pipeline neue Gaslagerstätten für den europäischen Markt erschlossen würden. Damit droht ein eklatanter fossiler „lock-in“. Denn auch wenn sich in Paris 195 Staaten, darunter die EU, Deutschland und Russland, zu einer Dekarbonisierung bis zur Mitte des Jahrhunderts verpflichtet haben, wird Nord Stream 2 bis 2050 noch lange nicht abgeschrieben sein.
Dabei haben wir uns nicht nur in Paris, sondern erst jüngst auf dem G20-Gipfel „zur Minderung des Treibhausgasausstoßes verpflichtet“ und schriftlich versichert, durch mehr Innovationen im Bereich saubere Energien und Energieeffizienz auf nachhaltige Energiesysteme mit geringem CO2-Ausstoß hinzuarbeiten. So steht es zumindest in der G20-Abschlusserklärung, aus der Bundeskanzlerin Angela Merkel gerne zitiert. Nord Stream 2 unterminiert diese Ziele. Statt eine fossile Infrastruktur und damit eine fossile Abhängigkeit auf Jahrzehnte zu zementieren, brauchen wir eine zunehmende Energieversorgung durch erneuerbare Energien und Maßnahmen zur Verringerung der Nachfrage.
Mit ihrer Aussage, Nord Stream 2 sei ein rein unternehmerisches Vorhaben, duckt sich die Bundesregierung vor ihrer politischen Verantwortung innerhalb der EU und gegenüber der Ukraine weg. Deshalb muss sie dem Projekt eine Absage erteilen.
Annalena Baerbock ist Sprecherin für Klimapolitik der Grünen-Bundestagsfraktion