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Verkehr & Smart Mobility

Mobilitätswende Druck aus Kommunen für Verkehrsrechtreform steigt

Neue Radwege, Tempo 30, Busspuren: Damit Kommunen solche Beschlüsse endlich auch umsetzen können, soll die Bundesregierung nach dem Willen der Zivilgesellschaft bis Jahresende das Straßenverkehrsgesetz ändern. Noch umfassender wäre ein Bundesmobilitätsgesetz.

Jutta Maier

von Jutta Maier

veröffentlicht am 14.06.2022

aktualisiert am 16.06.2022

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Beispiele für ausgebremste Kommunen gibt es zahlreiche: Die Stadt Frankfurt am Main etwa sperrte eine Fahrradstraße probeweise mit Pollern und Sackgassenschildern für den Autoverkehr. Doch das Gericht ordnete an, dass die Poller beseitigt werden müssen. Begründung: Die Verwaltung hatte keine Nachweise über Unfallzahlen oder Anzeigen wegen Nötigung oder Gefährdung erbracht. Dass diese Straße als Zugang für Schulen dient, reichte der Justiz als Gefahr nicht aus. Und die Poller waren laut Straßenverkehrsordnung (StVO) nicht zwingend zur Gefahrenabwehr erforderlich. 

Wegen solcher Fälle erhöhen unter anderem der Verkehrsclub Deutschland (VCD) und der Fahrradclub ADFC den Druck auf die Politik, das Straßenverkehrsgesetz (StVG) und die StVO zu reformieren, und zwar in dieser Reihenfolge: Zunächst müsste das übergeordnete StVG – neben dem bisherigen Gesetzeszweck „Sicherheit und Leichtigkeit des (Kfz-)Verkehrs“ – um Belange des Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutzes und städtebauliche Entwicklung ergänzt werden. Erst darauf aufbauend ließe sich dann die StVO ändern und Gestaltungsfreiheit für Kommunen schaffen, um die Mobilitätswende vor Ort voranzutreiben, sagt Angela Kohls, ADFC-Abteilungsleiterin für Verkehr, gestern bei einer Veranstaltung aus der VCD-Debattenreihe. 

Auch einen konkreten Zeitplan hat der ADFC parat: So verlangt er von der Bundesregierung, die StVG-Reform in das Klimaschutz-Sofortprogramm aufzunehmen. Ein Entwurf müsse umgehend vorgelegt werden, so Kohls: „Dazu müssten nur zwei Paragrafen geändert werden.“ Das StVG wird durch den Bundestag erlassen und kann ohne eine Bundesratsmehrheit geändert werden. 

Mindestens 20 Busse pro Stunde nachweisen

Die Änderungen müssten dann bis Ende des Jahres verabschiedet werden, damit sie im ersten Quartal 2023 in Kraft treten können. Aufbauend auf den neuen Gesetzeszielen könnte im kommenden Jahr dann eine grundlegende StVO-Reform auf den Weg gebracht werden. Hier macht das Bundesverkehrsministerium in der Regel einen Vorschlag, dem die Länderkammer zustimmen muss.  

Wie wenig Gestaltungsspielraum das Straßenverkehrsrecht derzeit einräumt, zeigt das Beispiel Busspuren: Um diese ausweisen zu dürfen, müssen Kommunen mindestens 20 Busse pro Stunde nachweisen. „Das gibt es fast nicht“, sagt Philipp Kosok, Projektleiter Öffentlicher Verkehr bei Agora Verkehrswende. Dabei sei es gerade wichtig, dass der ÖPNV nicht unter der Einrichtung von Tempo 30 leide und beschleunigt werde. Die Zeit sei mehr als reif für eine Gesetzesreform: „Der Veränderungswille in den Kommunen war noch nie so deutlich“, der Autoverkehr habe zunehmend ein Akzeptanzproblem

Dies macht Kosok auch fest an der weiter steigenden Zahl der Kommunen, die sich der „Initiative für lebenswerte Städte“ angeschlossen haben. 191 sind es mittlerweile, die wollen, dass der Bund für sie die rechtlichen Voraussetzungen für das Anordnen für Tempo 30 innerorts schafft, wo sie es für notwendig halten. Dass der große Teil dieser Städte in den westlichen Bundesländern liegt – in Thüringen ist keine einzige Kommune mit dabei – kann sich Kosok nur schwer erklären. Er räumte ein, dass es „ein gewisses Ost-West- und Nord-Süd-Gefälle“ gebe. Vielleicht hätten viele klamme Kommunen „noch drängendere Probleme zu bewältigen“, vermutet er.  

„Hauptverkehrsstraßen gesund bewohnbar machen“

Es gehe bei der Städteinitiative nicht darum, allen Städten vorzuschreiben, flächenhaft Tempo 30 einzuführen, betont Frauke Burgdorff, Stadtbaurätin der Stadt Aachen und Sprecherin der Tempo-30-Städteinitative. Tempo 50 auf wichtigen Einfallsstraßen könne weiter sinnvoll sein. Sie erhofft sich von mehr Tempo 30 neben besserer Luft vor allem auch weniger Lärm: „Unsere Hauptverkehrsstraßen können dadurch gesund bewohnbar werden, insbesondere bei dem vorhandenen Wohnraumangel.“

Der VCD würde gerne noch einen Schritt weiter gehen – und plädiert deshalb für ein Bundesmobilitätsgesetz, quasi als Runderneuerung des Straßenverkehrsrechts. Es würde einheitliche Ziele für Bund, Länder und Kommunen definieren, die Finanzierung der Mobilitätswende sichern und das koordinierte Verlagern vom motorisierten Individualverkehr auf den ÖPNV ermöglichen.

„Leider gibt es oft keine gemeinsame Betrachtung“, sagt Axel Friedrich vom wissenschaftlichen Beirat des VCD. Nötig sei ein Bundesmobilitätsgesetz auch schon deshalb, weil Städte allein das Thema Klimaschutz nicht allein lösen könnten: Denn zwar starten und enden die meisten Wege in einer Kommune, doch es sind die Strecken von mehr als zehn Kilometern im überörtlichen- und im Fernverkehr, auf denen der CO2-Ausstoß am höchsten ist. 

Debatten könnten noch heftiger werden

Ein Bundesmobilitätsgesetz würde aus Sicht von Frauke Burgdorff aus Aachen zu einer echten Abwägung führen, wann eine Beruhigung des Autoverkehrs sinnvoll ist. „Das tun wir im Moment nicht.“ Die Debatten könnten dadurch noch heftiger werden als momentan, wären dann aber ehrlicher – „weil man dann auch umsetzen könnte, was man beschließt“.  

Die Grünen-Abgeordnete Swantje Michaelsen verspricht, sich im Verkehrsausschuss stärker für Belange der Städte einzusetzen. Momentan sei ihr Eindruck dort „relativ ernüchternd“. Es gehe dort vor allem um autonomes Fahren, Elektromobilität, Schiffs- und Flugverkehr. „Die Fragen, die uns in den Kommunen beschäftigen, die spielen in meiner Wahrnehmung keine Rolle.“ Michaelsen zeigt sich aber zuversichtlich, dass die beschriebenen Gesetzesreformen in der Ampel „ein gemeinsames Projekt werden“ könnten. Schließlich seien die Weichen im Koalitionsvertrag entsprechend gestellt.

Frauke Burgdorff wartet seit Monaten auf eine Reaktion von Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) auf ein Schreiben der Tempo-30-Initiative, um deren Argumente vortragen zu dürfen. Für radikal hält sie das Anliegen nicht. „Wir sind als Kommunale ja sowieso schon immer im Abwägungsmodus und sehen alle Interessen.“

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