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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Wie die Mobilitätswende in Stadt UND Land gelingen kann

Markus Lewe, Oberbürgermeister von Münster, und Olaf Gericke, Landrat des Kreises Warendorf
Markus Lewe, Oberbürgermeister von Münster, und Olaf Gericke, Landrat des Kreises Warendorf Foto: RNE

Damit die Mobilitätswende in der Fläche Fahrt aufnimmt, braucht es eine verlässliche Finanzierung durch den Bund, schnellere Planungs- und Vergabeverfahren und mehr Freiheit für Kommunen, schreiben Markus Lewe, Oberbürgermeister von Münster, und Olaf Gericke, Landrat des Kreises Warendorf. Auch die Chancen der Digitalisierung müssten genutzt werden.

von Lewe_Gericke

veröffentlicht am 09.06.2022

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Ob Neun-Euro-Ticket, Elektromobilität oder beschleunigte Planungsverfahren: Der Verkehrssektor ist nicht nur für die Erreichung der Klima- und Nachhaltigkeitsziele von zentraler Bedeutung, sondern auch für gleichwertige Lebensverhältnisse, soziale Teilhabe und wirtschaftliche Entwicklung. Die Mobilitätswende wird dabei nur erfolgreich sein, wenn sie die Mobilitätsbedürfnisse aller Menschen in Deutschland gleichermaßen berücksichtigt: jener in den Großstädten, aber auch der rund 68 Prozent, die in der Fläche und den ländlichen Räumen leben und arbeiten.

Deswegen haben wir als Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowie Landrätinnen und Landräte gemeinsam seit dem vergangenen Herbst auf Einladung des Rates für Nachhaltige Entwicklung und des Deutschen Landkreistags in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Städtetag und dem Deutschen Städte- und Gemeindebund einen intensiven Dialog zur Mobilitätswende geführt. Nur das gegenseitige Verständnis für die Herausforderungen des jeweils anderen hilft uns weiter. Nur gemeinsam können wir zu guten Lösungen kommen.

Verlässliche Verkehrsfinanzierung statt Tarif-Kater im Herbst

Klar ist: Wir brauchen einen massiven Ausbau des ÖPNV im ganzen Land zu bezahlbaren Preisen. Gemäß VDV-Leistungskostengutachten von Roland Berger besteht für den ÖPNV-Ausbau bis 2030 insgesamt ein ungedeckter zusätzlicher Finanzbedarf von rund 50 Milliarden Euro. Diese gigantische Summe ist erforderlich, wenn der ÖPNV seinen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele und zur Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse leisten soll. Der Corona-Rettungsschirm hat uns durch die Pandemie gebracht, doch es bleiben riesige Finanzierungslücken durch massiv gestiegene Bau-, Personal- und Energiekosten.

Stattdessen nun also das Neun-Euro-Ticket: Wir haben große Sorge, dass die „Party“ nach drei Monaten wieder vorbei ist. Denn was passiert im September? Die vordringlichen Herausforderungen der ÖPNV-Finanzierung sind ungelöst: Die ÖPNV-Aufgabenträger und Verkehrsunternehmen werden wegen der Preisentwicklung ab Herbst 2022 vermutlich gezwungen sein, entweder Angebote zu reduzieren oder Tarife zu erhöhen. Der Kater wird kommen. Wir brauchen deshalb eine kurzfristige Lösung für die aktuelle Preisexplosion und eine langfristige Perspektive für den weiteren Ausbau des ÖPNV. Denn wo kein Bus fährt, nützt auch kein für drei Monate rabattiertes Ticket. Ein erster Schritt wäre eine zusätzliche strukturelle Erhöhung der Regionalisierungsmittel durch den Bund um mindestens 1,5 Milliarden Euro. 

Schieneninfrastruktur: Gerechter bewerten, schneller planen

Um die Schieneninfrastruktur schnell und umfassend auszubauen, inklusive Neubau, Reaktivierung und Elektrifizierung, müssen neben der Wirtschaftlichkeit auch Aspekte des Umwelt- und Klimaschutzes sowie der Daseinsvorsorge stärkere Berücksichtigung in den Kosten-Nutzen-Berechnungen der sogenannten standardisierten Bewertung finden. Bei der Neubewertung von Projekten im Bundesverkehrswegeplan müssen diese Nachhaltigkeitsaspekte ebenfalls gestärkt werden.

Und wir haben keine Zeit mehr zu verlieren! Deswegen braucht es eine drastische Beschleunigung und Verschlankung der Planungsprozesse. Landauf, landab gibt es stillgelegte Bahnstrecken, die nur noch für den Güterverkehr genutzt und für den Personenverkehr reaktiviert werden sollen. Planungen dafür laufen zum Teil über Jahrzehnte. Die entsprechenden Planfeststellungsverfahren dauern viel zu lange.

Wenn dann ein rechtskräftiger Plan vorliegt, folgen komplexe Vergabeverfahren, die wiederum viel zu langwierig sind. Wir müssen hier agiler werden, sonst werden wir unsere Ziele nicht im vorgesehenen Zeitrahmen umsetzen können. Dabei helfen würden auch besser ausgestattete Gerichte und Behörden sowie effektive Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel in den Bereichen Planung und Handwerk. Uns fehlen schlicht die Ingenieurinnen und Ingenieure, um die Projekte zu realisieren und die notwendigen Milliarden zu verbauen.

Mehr Freiheit für die Kommunen

Wir Kommunen brauchen ferner mehr Freiheit. Das betrifft zum Beispiel die Anwendung der Straßenverkehrsverordnung. Wir wollen mit Experimentierklauseln neue Herangehensweisen erproben und innovative Lösungen entwickeln. Wir wissen selbst am besten, wo wir Tempo 30 brauchen – und wo nicht. Landkreise, Städte und Gemeinden sollten gemeinsam vor Ort ausloten können, wie wir einerseits lebenswerte Städte mit hoher Aufenthaltsqualität schaffen und andererseits deren Zugänglichkeit auch für die Menschen aus dem Umland erhalten.

Schließlich besitzen die Städte als Ober- und Mittelzentren eine zentrale Versorgungsfunktion für das Umland. Wir haben gute Ideen – wir brauchen aber das Geld und die Freiheit, diese umzusetzen. Dann könnten wir auch der „Projektitis“ Lebewohl sagen: Denn statt auf immer wieder neue, komplizierte Förderprogramme mit kurzer Dauer zu setzen, die zudem gerade in strukturschwachen Kommunen mit wenig Personal schwer zu beantragen sind, wären eine maximale Vereinfachung und viel mehr noch eine auskömmliche Finanzierung der Kommunen das Gebot der Stunde.

Digitalisierung nutzen: Von On-Demand bis zu neuen Arbeitsmodellen

Wir müssen zudem die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen und durch integrierte und multimodal vernetzte Angebote Verkehre effizienter gestalten. In Zukunft werden wir vielerorts keine starren Busfahrpläne mehr brauchen, sondern können durch smarte Systeme verhindern, dass Geisterbusse durch die Gegend fahren. Das geht zum Beispiel durch die Einbindung von On-Demand-Verkehren, Bürgerbussen und privat geteilten Fahrten (Carpooling/Ridesharing) sowie kombinierte Personen- und Güterbeförderung.

Wir können aber auch Verkehre vermeiden durch großzügige Lösungen für das Homeoffice oder durch die Förderung von Satellitenbüros großer Unternehmen in der Fläche und Co-Working-Spaces im ländlichen Raum. Das könnte im größeren Maßstab auch zur Entlastung der Innenstädte beitragen und gleichzeitig das Leben in den Dörfern bereichern. Pilotprojekte im Schwalm-Eder-Kreis oder der Initiative 1000 Satellites von (ehemaligen) BASF-Mitarbeiter:innen zeigen, dass das möglich ist.

Ganz ohne Auto geht es nicht – dann aber elektrisch!

Klar ist aber auch: Selbst mit gut ausgebautem ÖPNV- und Radverkehrsnetz wird es ganz ohne Auto nicht gehen, schon gar nicht auf dem Land. Darum müssen wir der Elektromobilität zum Durchbruch verhelfen. Die Vorbehalte halten sich trotz der staatlichen Weichenstellungen und der zunehmenden Ausrichtung der Hersteller auf E-Mobilität. Woran liegt das? Laut Allensbach Mobilitätsmonitor 2021 glauben 66 Prozent der Deutschen, dass es zu wenige Ladestationen für Elektroautos gibt. Außerdem werden die hohen Anschaffungskosten moniert. Daher braucht es Förderung privater E-Autos sowie eine flächendeckende Ladesäulen- und Tankstelleninfrastruktur für alternative Antriebe.

Wir sehen: Die Lösungen für die Mobilitätswende liegen auf dem Tisch. Wir wissen, was zu tun ist. Machen wir uns an die Arbeit. Wir haben keine Zeit zu verlieren. 

Markus Lewe ist Oberbürgermeister von Münster, Mitglied des Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE) und Präsident des Deutschen Städtetages. Olaf Gericke ist Landrat des Kreises Warendorf und Mitglied des Präsidiums des Deutschen Landkreistages.

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