Seit fast 30 Jahren läuft in Deutschland die Diskussion darüber, wie stark die Kohlendioxidemissionen des inländischen Verkehrs in welchen Zeiträumen sinken sollten und mit welchen Instrumenten sowie Maßnahmen das jeweilige Ziel zu erreichen wäre. Die Erfolge dieser Debatten sind – nimmt man den gesamten Verkehrssektor in Deutschland hinsichtlich seiner treibhausrelevanten Emissionen in den Blick – ausgeblieben.
Klar: Wir feiern in der Öffentlichkeit viele Einzelfortschritte, vom verbesserten Angebot des Schienenfernverkehrs, verbrauchsärmeren Pkw und Lkw sowie Bussen, Car-Sharing, Bike-Sharing bis hin zu kerosinsparenden Triebwerken für Flugzeuge. Manche jubelten auch, als die Mineralölsteuer in die Ökosteuer einbezogen wurde und die Kraftfahrzeugsteuer eine „Klimaschutzkomponente“ erhielt. Nur: Abgesehen davon, dass man auf diese Innovationen in Wissenschaft und Technik durchaus stolz sein kann, sind die Effekte auf die Treibhausgasintensität des Verkehrs insgesamt kaum messbar.
Warum? Weil die Annahme, alles, was die Verkehrsnachfrage beeinflusst, sei zukünftig konstant und nur die jeweilige Innovation wirkt, schlicht falsch ist. Beispielweise fördern niedrige Treibstoffpreise mehr Fahrleistung, induzieren neue oder verbreiterte Straßen mehr Verkehr, ebenso wie (im Vergleich zur Innenstadt) niedrigere Baulandpreise im Umland und günstige Hypothekenzinsen oder der weitgehend von Monopolen befreite Flugreisemarkt mit deutlich gesunkenen Preisen. Und: Im Laufe der Jahrzehnte wuchs auch das privat verfügbare Einkommen deutlich, so dass nach manchen Preis- und Steuererhöhungen der anfängliche „Aha-Effekt“ („weniger Fahrten und Flüge oder zumindest treibhausgasarme Verkehrsmittel, bitte“) alsbald abklang.
Und wir ergötzen uns am einzelnen Innovationsprojekt (zum Beispiel Elektromobilität oder dem Dieselmotor) weiter, nicht zuletzt, weil auch die nicht Bedürftigen auf staatliche Forschungsförderung – meist in leider berechtigter Weise – hoffen dürfen. Aber diese, durchaus legitimen Interessen der Wissenschaft und der Unternehmen dürfen doch kein Maßstab dafür sein, was, um den Verkehr in Deutschland binnen eines bestimmten Zeitraums weniger treibhausgasintensiv zu machen, wirksam sein muss.
Wer setzt aber politisch-praktisch diese Maßstäbe? Idealerweise nach unserer Verfassung der Deutsche Bundestag und die jeweiligen Landesparlamente im Rahmen ihrer Zuständigkeit – eingebunden jeweils in das Recht der EU. Aber diese Maßstäbe – in Gestalt eines Klimaschutzgesetzes (auch) für den Verkehr fehlen jenseits bloßer politischer Absichtserklärungen. Unglaubwürdig sind so manche Erklärungen schon deshalb, weil die staatlicherseits verantworteten direkten und indirekten Subventionen im Verkehr bislang nicht zur Disposition stehen, obwohl sie steigende Fahr- und Flugleistungen fördern. Stattdessen hören wir seit drei Jahrzehnten Eidesformeln wie „Mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene“ – natürlich weitgehend folgen- und fruchtlos.
Die Gründe: Erstens meint der Staat, so genannte Sektorziele für den Verkehrssektor definieren zu müssen, zweitens ist er der Überzeugung, diese (mehr oder minder willkürlich definierten) Ziele mit Maßnahmen mit ins Letzte reichende Details und verhaltenslenkenden Instrumenten „durchregieren“ zu müssen und drittens fühlt sich der Staat für den Erhalt konkreter, einzelner Beschäftigungsverhältnisse oder zumindest deren Überleitung in neue verantwortlich. Vor dem Hintergrund dieser „Sperrklinkeneffekte“ („Niemandem darf es jemals schlechter gehen, aber dem Klimaschutz immer besser“) frage ich mich, ob das wirklich zu jedem Zeitpunkt gut gehen kann.
Zumindest, solange der Staat (konkret die EU) nicht die jährlich verwendbare Menge verbrauchbarer fossiler Energien klimaschutzkompatibel beschränkt, bedarf es spezieller sozialtherapeutischer Ansätze doppelter Art:
Ich fürchte, mit meiner „ständestaatlichen“ Diagnose in der Tendenz richtig zu liegen: Indem sich die jeweiligen Bundes- und Landesministerien überwiegend in einer Art Garantenstellung für das Wohlergehen „ihrer“ (also dem jeweiligen Ressort inhaltlich zugeordneten) Wirtschaftszweige und Umweltverbände sehen (besonders ausgeprägt nicht nur in den Verkehrs- sondern auch in den Landwirtschaftsministerien) finden die privaten Interessen der jeweiligen Klientel besonders einfach Gehör. Das ist keine plumpe Kapitalismuskritik, etwa gegen das Motto „die deutsche Automobilindustrie hat so viel in die Dieseltechnik investiert, diese muss sich jetzt erst einmal mehr als nur amortisieren“, sondern eine Diagnose, die in der politischen Debatte unter der Überschrift „Wir sichern Arbeitsplätze, obwohl wir Veränderungen zugunsten des Klimaschutzes im Verkehr wollen“ steht. Indem sich der Staat nicht mehr nur für das „gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht“ verantwortlich fühlt, sondern für die Arbeitsplatzzahl eines bestimmten Wirtschaftszweiges oder gar Unternehmens, macht ihn für die jeweiligen Interessierten zu einem für ihre Zwecke gut einspannbaren „Partner“.
Was lässt sich angesichts dieser Situation für einen klimaschutzverträglichen Verkehr tun? Klar ist: So, wie die jetzige ständestaatliche Routine eingespielt ist, wird aus der geringeren Treibhausgasintensität des Verkehrs in Deutschland in überschaubarer Zeit wohl kaum etwas, zumal die Neutralität des Verkehrsressorts auf Bundesebene mit den Vollzugsdefiziten bei Stickstoffemissionen der Pkw und den Flottenverbrauchswerten für Kohlendioxid, die abhängig vom Fahrzeuggewicht (!) definiert wurden, auf Bedenken stößt.
Mein sozialtherapeutischer Vorschlag ist stereophoner Art:
Erstens schlage ich vor, sich am Vorbild der „Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfälle“ als mögliche Organisationsform für Vorschläge an die Parlamente und Exekutiven zu orientieren. Die Kommission arbeitete sehr erfolgreich, auch mit einem für alle Interessierten gut verständlichen Abschlussbericht. Sie bestand aus Mitgliedern des Bundestages, der Landesregierungen, der Umweltverbände und Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften und Unternehmen sowie Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen. Sie legte in die kommenden Jahrzehnte reichende Vorschläge für die materiellen Kriterien und das Verfahren der Bürgerbeteiligung für die Suche nach einem Endlager für hoch radioaktive Abfälle fest, die in die Gesetzgebung einflossen.
Analoges erscheint mir auch für den Verkehrsbereich sinnvoll. Dieses Votum ist zwar Ausdruck eines Misstrauens gegenüber der bisherigen legislativen sowie exekutiven Vorgehensweise, aber ein Vertrauen in den Deutschen Bundestag, ein solches Gremium („Kommission Verkehrswende“) einzusetzen – beispielsweise in einem Klimaschutzgesetz – , und zwar mit der Bereitschaft des Parlaments, dessen Ratschläge gesetzgeberisch zu flankieren.
Zweitens sollten wir (Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen sowie Verwaltungen) mit regionalen Modellprojekten in kleinen, ländlichen Gemeinden, Mittelstädten sowie Großstädten probieren, was klimaschutzverträglicher Verkehr im Alltag wirklich konkret bedeuten kann, welche Akzeptanz und Änderungen der Routinen er erfährt und welche Schlussfolgerungen sich hieraus ergeben. Denn seien wir ehrlich: Wie ein weniger treibhausgasintensiver Verkehr in konkreten Räumen funktioniert, mit welchen konkreten Techniken und Verhaltensweisen, müssen wir alle erst lernen; wohlfeile Prognosen helfen dabei nicht weiter, insbesondere nicht dabei, eine „klimaverträgliche Verkehrspraxis“ langfristig durchzuhalten.
Sicher wäre es hilfreich, eine „Kommission Verkehrsende“ im Rahmen eines Klimaschutzgesetzes des Deutschen Bundestages einzurichten, schon um das „ständestaatliche Verständnis“ so mancher Bundes- und Landesministerien aufzubrechen. Operativ bedarf eine solche Kommission der fachlichen sowie organisatorischen – insbesondere an der Bürgerbeteiligung orientierten – Unterstützung Dritter. Ich denke hier vor allem an die – kürzlich gegründete – „Agora Verkehrswende“ und zwar nicht wegen inhaltlicher Befangenheit, sondern im Gegenteil: Weil die „Agora Verkehrswende“ sich – mangels Existenz – nicht im Interessenskampf der letzten Jahrzehnte verschliss, hat sie das Potential, den operativen Unterbau einer „Kommission Verkehrswende“ zu bilden. Und Sie könnte auch die Erfahrungen der Modellprojekte bündeln, kritische Erfolgsfaktoren identifizieren sowie Handlungsempfehlungen für die „Kommission Verkehrswende“ aufbereiten.
Andreas Troge war von 1995 bis 2009 Präsident des Umweltbundesamtes (UBA).