Stromnetze sind ja nicht einfach nur Stromnetze. Jeder, der schon mal über Land gefahren ist und seinen Kindern erklären möchte, warum manche Leitungsmasten so hoch sind und andere nicht, auf einigen Masten mehr Vögel sitzen als auf anderen, sie überhaupt so ganz anders aussehen können, der muss differenzieren. Insbesondere nach den Ebenen Höchstspannung, Hochspannung, Mittel- und Niederspannung oder aber nach den Funktionen Übertragungsnetz, Verteilnetz, Mittelspannungs- und Niederspannungsnetz.
Mit der nun natürlich unweigerlich folgenden Frage (der Kinder), welches der ganzen Netze denn eigentlich das Wichtigste beziehungsweise der „Bestimmer“ sei, sind wir mitten drin in einem jüngst und heute durchaus kontrovers diskutierten Thema der – kleiner geht es wirklich nicht – deutschen Energiewende. Dieses hat sich im Zusammenhang mit dem 2016er Gesetz zur Digitalisierung der Energiewirtschaft (GDEW) Luft verschafft und berührte, auch wenn es vordergründig „nur“ um Daten und Bilanzierung ging, die Frage nach der Bedeutung und Aufgabenverteilung in den deutschen Stromnetzen. Was steckt dahinter?
Mit der Energiewende ging bekanntlich nicht nur der 2011er Ausstieg aus der Atomenergie einher. Mit ihr kam auch der rasante Ausbau der erneuerbaren Energien. Das Energieversorgungssystem wurde und wird umgebaut – von den großen zentralen Stromerzeugern (zum Beispiel in Atom) hin zu einer Vielzahl von dezentralen Anlagen (zum Beispiel in Solar).
Dieser Umbau bedeutet auch: Die Energienetze transportieren nicht mehr wie früher den Strom vom Großkraftwerk der Höchstspannungsebene „runter“ zum Verteilnetz und Letztverbraucher. Der Strom wird vielmehr direkt eingespeist in die Verteilnetze und muss so den „langen Weg“ vom Übertragungsnetz zum Niederspannungsnetz gar nicht mehr nehmen. Heute sind schon rund 60 Prozent der gesamten Kraftwerksleistung im Verteilnetz angeschlossen; der zügige Anstieg auf nahezu 80 Prozent wird erwartet. Der unmittelbar in das Verteilnetz eingespeiste Strom wird horizontal auf der Nieder- und Mittelspannungsebene der Verteilnetze verbreitet. In manchen Netzgebieten, vor allem im Norden und Osten Deutschlands, wird er sogar umgekehrt wie bisher, nämlich „hoch“ zu den höheren Spannungsebenen geleitet.
Kehrt sich damit also die Bedeutung der Netzebenen/Netzfunktionen um und das Verteilnetz wird zum wichtigsten Netz, zum „Bestimmer“ im System? Bedeutet das der oft gehörte Satz „Die Energiewende findet im Verteilnetz statt.“, dass die Verteilnetze die neuen und eigentlichen Garanten der Versorgungssicherheit in Deutschland sind? Ganz so einfach ist das nicht. Tatsächlich geht es um das Zusammenspiel von Übertragungs- und Verteilnetzen in der veränderten und sich weiter verändernden Energiewelt. Jede Seite pocht zudem auf ihre Bedeutung und Kompetenzen.
Schauen wir auf diese, sehen wir zunächst den § 11 Absatz 1 Satz 1 Energiewirtschaftsgesetz (EnWG). Dort heißt es, dass die Betreiber von Energieversorgungsnetzen verpflichtet sind, „ein sicheres, zuverlässiges und leistungsfähiges Energieversorgungsnetz diskriminierungsfrei zu betreiben, zu warten und bedarfsgerecht zu optimieren, zu verstärken und auszubauen, soweit es wirtschaftlich zumutbar ist.“ Energieversorgungsnetze, das sind nach § 3 Nummer 16 EnWG (auch) die Stromnetze über eine oder mehrere Spannungsebenen. Soweit, so gut. Im zweiten Satz des § 11 Absatz 1 EnWG erfolgt die Zuweisung der Aufgaben nach den §§ 12 bis 16a. Den Übertragungsnetzbetreibern wird mit § 13 EnWG die Systemverantwortung zugewiesen. Außerdem ordnet ihnen § 13 EnWG „Werkzeuge“ zu, mit denen sie Gefahren oder Störungen der Sicherheit und Zuverlässigkeit des Stromversorgungssystems in der Regelzone beseitigen können. Das sind netzbezogene Maßnahmen (wie Netzschaltungen), marktbezogene Maßnahmen (wie der Einsatz von Regelenergie, verabredete abschaltbare und zuschaltbare Lasten), der Rückgriff auf zusätzliche Reserven (wie auf Anlagen der Netzreserve nach § 13d oder auf Anlagen der Kapazitätsreserve nach § 13e). Funktioniert dies alles nicht, dürfen die Betreiber der Übertragungsnetze entsprechende Stromeinspeisungen, -transite und -abnahmen anpassen beziehungsweise die Anpassung verlangen.
Die vorgestellten Regelungen in § 13 EnWG passten auf die bisherige Situation ganz prima. Früher, als es noch die vielen großen zentralen Kraftwerke gab, fanden die Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) ihre „Werkzeuge“ für den Erhalt der Systemsicherheit in ausschließlich ihrem Zugriff, wie beschrieben auf Übertragungsnetzebene. Mit dem Wegfall der Großkraftwerke in ihrer Ebene änderte sich der „Werkzeugkasten“ der Übertragungsnetzbetreiber. Sie müssen nun stärker auf die Steuerung von kleineren Anlagen zurückgreifen. Diese aber liegen nicht mehr in ihrem unmittelbaren Zugriff, sondern sind eben heute zu 60 Prozent, bald 80 Prozent bei den Verteilnetzbetreibern angeschlossen. Kein Problem für den gesetzestreuen, die Systemsicherheit gemäß § 13 EnWG verteidigenden ÜNB? Vielleicht, wenn es nur und allein den § 13 EnWG (und keine Eigentumsrechte) gäbe.
Tatsächlich aber gibt es nicht nur § 13 EnWG sondern auch den § 14 EnWG (und anderes Eigentum an Netzen als das von den ÜNB). § 14 EnWG spricht die Verteilnetzbetreiber an und verpflichtet nun diese, die Sicherheit und Zuverlässigkeit der Stromversorgung in ihrem Netz zu sichern. Von ihnen werden alle Systemsicherheitsmaßnahmen erwartet, die erforderlich sind, um zum Beispiel lokale Netzausfälle zu verhindern. Die Regeln der §§ 12 und 13 EnWG sollen für die Verteilnetzbetreiber entsprechend gelten, auch sie haben also einen vollen „Werkzeugkasten“, um ihren Job zu erledigen. Angesichts der stetig wachsenden Einspeisung von dezentralen Stromerzeugern wurde und wird dieser natürlich immer anspruchsvoller.
Da bei den Gesetzen nicht gilt, dass zuerst mahlt, wer zuerst kommt, stehen die §§ 13 und 14 nebeneinander. Die Verantwortungssphären werden dem jeweiligen Netzbetreiber zugeordnet, verschiedene „Werkzeuge“ zur Verfügung gestellt. Im Grunde passt dies zur neuen dezentralen Welt der Stromversorgung. Praktisch kommt es aber immer wieder zu Kollisionen zwischen den Bemühungen der Netzbetreiber um die Stabilität ihres jeweils verantworteten Netzgebietes. Muss etwa ein Verteilnetzbetreiber eine Anlage abregeln, um die Netzstabilität zu wahren, kann das exakt in die Zeitspanne fallen, in der der Übertragungsnetzbetreiber diese Anlage selbst hochfahren will, um zum Beispiel die Frequenz der Regelzone zu stabilisieren. Können die „großen“ Übertragungsnetzbetreiber einen Vorrang für ihre Maßnahme postulieren? Natürlich nicht. Wenn das Verteilnetz schwarz wird, bekommt der Übertragungsnetzbetreiber nicht nur seine Frequenzregelung nicht in den Griff. Er hat noch ein viel schwereres Problem zu managen. Und außerdem verpflichtet das Eigentum die Verteilnetzbetreiber auch zu Maßnahmen für Sicherheit und Zuverlässigkeit ihres Netzes.
Wenn niemand der „Chef“ ist, geht es im Kern um einen ordentlichen Ausgleich, um eine ordentliche Abstimmung der Maßnahmen der Netzbetreiber untereinander. Vieles kann bereits lokal gelöst werden, bevor es im Übertragungsnetz überhaupt zum Problem wird. Ohne Abstimmung mit den Verteilnetzen und deren Einbindung geht es für die Übertragungsnetzbetreiber also nicht.
Wer heute meint, nur mit den vier ÜNB reden, ihnen den Durchgriff geben zu müssen, damit es in Deutschland hell bleibt, der irrt. Erstens klappt das technisch nicht. Zweitens kann es sogar rechtswidrig sein, wenn Maßnahmen der Übertragungsnetzbetreiber in den ureigenen Bereich der Verteilnetzbetreiber eingreifen – nämlich dann, wenn weder die Dringlichkeit noch eine gesetzliche Zuordnung einer Maßnahme zum Übertragungsnetzbetreiber eine angemessene Einbindung des Verteilnetzbetreibers verhindern. Umgekehrt gilt das natürlich auch, entsprechende Beschwerden sind der Verfasserin dieses Artikels aber nicht bekannt.
Das EnWG stellt Übertragungsnetzbetreiber und Verteilnetzbetreiber nebeneinander. Es verweist für die Aufgaben und Instrumente der Verteilnetzbetreiber (§ 14 EnWG) auf die Vorgaben für die Übertragungsnetzbetreiber (§ 13 EnWG). Das zeigt, dass es sich bei der Verantwortung für die Systemsicherheit um eine Aufgabe handelt, die Netzbetreiber zusammenwirkend wahrnehmen müssen, wenn wir nicht großflächige Netzausfälle riskieren wollen. Und damit letztlich auch das Gelingen des Großprojekts Energiewende.
Allein mit der Einbindung der Verteilnetzbetreiber bei Maßnahmen der Übertragungsnetzbetreiber kann eine kooperative und angemessene Herstellung der Systemsicherheit gewährleistet werden. Bei den § 13 Absatz 2er Notfallmaßnahmen wird sie schon gelebt: Der Verteilnetzbetreiber wird im Rahmen der sogenannten Kaskade zum lokalen Partner seines ÜNB. Er bestimmt auf der Basis seiner spezifischen Ortskenntnisse die beste Art, wie das Bedürfnis des Übertragungsnetzes erfüllt werden kann. Dieses Kaskadenmodell muss für Maßnahmen außerhalb von Notfallmaßnahmen Anwendung finden (soweit diese nicht gesetzlich ausschließlich dem Übertragungsnetzbetreiber zugewiesen sind). Einen Grund, dies nicht zu tun, gibt es nicht. Das sind wir auch den Verbrauchern schuldig.
Bei den Maßnahmen, die historisch allein den Übertragungsnetzbetreibern zugewiesen sind (wie der Regelenergieeinsatz oder der Einsatz ab- und zuschaltbarer Lasten), muss gleiches gelten. Auch hier muss künftig eine stärkere Einbindung des Verteilnetzbetreibers erfolgen. „Efficiency first“, das gilt auch hier, liebe Regulierer, liebe Politik. Sind wir soweit, bitten wir um einen weiteren Blick auf die Netzentgeltsystematik. Der Beitrag der Verteilnetzbetreiber bei der Erhaltung der Systemstabilität wird angemessen zu vergüten sein. Hier reicht vermutlich schon die Gleichstellung mit den ÜNB.
Das Happyend, das Sie Ihren Kindern beim Betrachten der vielen schönen Leitungsmasten erzählen könnten, sieht also so aus: Vertragt Euch, Netzebenen, und spielt schön miteinander. Einen Bestimmer gibt es nicht, nur die beste Lösung.
Ines Zenke ist Fachanwältin für Verwaltungsrecht in der Kanzlei Becker Büttner Held und Vize-Präsidentin des Wirtschaftsforums der SPD.