Genau zwei Jahre nach Verabschiedung des Pariser Klimaabkommens kamen letzte Woche rund 50 Staats- und Regierungschefs sowie Fachleute aus Industrie, Bankwesen und Zivilgesellschaft zum „One Planet Summit“ in Paris zusammen. Sie tauschten sich darüber aus, welche Rahmenbedingungen benötigt werden, um die Klimaziele erreichen zu können – und wie der Finanzmarkt dafür neu geordnet werden müsste. Trotz einiger positiver Ergebnisse wurde kein bindendes Abkommen verabschiedet. Die Signale aus der Politik bleiben vage.
Dabei dürfen wir keine Zeit verlieren, wenn wir die globalen Risiken des Klimawandels für die nachfolgenden Generationen mindern wollen. Die Emissionen steigen weiter; der Staatengemeinschaft fehlt ein klares Konzept, um die Erderwärmung auf 2 Grad zu begrenzen; mehrere Länder wie Deutschland warnen beständig vor dem Verfehlen der Klimaziele. Aber wie erfolgreich sind wir denn bislang mit unserer eigenen Energiewende? Lohnen sich ihre nicht geringen Kosten von derzeit etwa 25 Milliarden Euro pro Jahr? Gehen wir mit gutem Beispiel voran? Die Antworten auf diese Fragen sind leider negativ.
Eine genauere Analyse zeigt, dass wir bis 2020 nahezu alle unsere Energiewendeziele verfehlen. Noch schlimmer ist: wenn wir so weitermachen, wird die Diskrepanz zwischen Soll und Haben in den darauf folgenden Jahrzehnten sogar noch viel größer. Es ist also höchste Zeit für einen Kurswechsel. Dabei sind alle gesellschaftlichen Akteure gefragt. Nur wenn Politik und Wirtschaft, Erzeuger und Verbraucher sowie Bürgerinnen und Bürger sehr viel mehr tun als bisher, kann die Energiewende gelingen. Denn der Umbau der Energieversorgung zu einem klimafreundlichen System ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nicht nebenbei bewältigt werden kann. Dass sie Anstrengungen und Mehrkosten für jeden Einzelnen bedeutet, darf nicht verschwiegen werden.
Warum läuft die Energiewende trotz anfänglicher Erfolge nicht wirklich rund? Eine Hauptursache ist, dass wir die Gesamtheit aller Energieträger, Infrastrukturen, Erzeuger und Verbraucher, nicht als zusammenhängendes Energiesystem behandeln – technisch, ökonomisch und regulatorisch. Jeder der Sektoren Strom, Verkehr und Wärme hat bisher ein nahezu unabhängiges Eigenleben; eine sektorenübergreifende Optimierung findet kaum statt. Wir müssen aber Verkehr und Wärmeerzeugung viel mehr mit Strom aus Windkraft und Photovoltaik (PV) betreiben, wenn wir den Verbrauch fossiler Kraft- und Brennstoffe deutlich senken wollen.
Was heißt das im Klartext? Es bedeutet, dass wir die Energiewende neu denken und anders organisieren müssen. Dazu bedarf es wesentlich mehr als nur Lippenbekenntnisse und kosmetische Maßnahmen. Vor allem die neue Bundesregierung muss künftig klare Signale setzen in Richtung Sektorkopplung und Systemintegration. Das bedeutet ganz konkret: Wir müssen Strom, Wärme und Verkehr ganzheitlich behandeln und viel mehr erneuerbare Energien in alle Sektoren bringen als heute geplant. Dazu ist es auch erforderlich, die regulatorischen Rahmenbedingungen neu zu gestalten. Nur so bekommen wir die Energiewende noch in den Griff.
Warum ist Eile geboten? Der Umbau des regulatorischen Systems benötigt in einer Demokratie viel Zeit, viele Diskussionen und Abstimmungen, behutsames Vorgehen. Es wäre sehr wünschenswert, wenn auch die Einbettung in das europäische Ganze mehr Augenmerk bekäme. Investitionen in Infrastrukturen, Technologien und Anlagen müssen sorgfältig geplant werden und haben lange Laufzeiten: Allein für Entscheidungs- und Vorbereitungsprozesse gehen oft 10 Jahre ins Land, und Infrastrukturen, Gebäude und Kraftwerke werden in der Regel erst nach 30 bis 40 Jahren erneuert. Wenn wir also zu lange warten, kommt die Energiewende zu spät oder lässt sich am Ende nicht mehr bezahlen. Dann haben wir ihre Chancen verschlafen.
Wie kann Deutschland die Energiewende also wieder zu einer Erfolgsgeschichte machen? Mit dieser Frage haben wir uns in einer Arbeitsgruppe des Akademienprojekts „Energiesysteme der Zukunft“ (ESYS) beschäftigt. Basierend auf Expertendiskussionen, einem Vergleich relevanter Energieszenarien und eigenen Modellrechnungen haben wir Trends der künftigen Energieversorgung ermittelt und daraus Technologieoptionen und Entscheidungswege für Deutschland abgeleitet.
Eine grundlegende Erkenntnis lautet: Strom aus regenerativen Quellen wird zum zentralen Energieträger der Zukunft. Wo immer möglich, sollte er aus Effizienzgründen direkt genutzt werden. Zum Beispiel wandeln elektrische Wärmepumpen Strom mithilfe von Wärme aus der Umwelt sehr effizient in Niedertemperaturwärme für Heizung und Warmwasser um. Das spart viel Erdgas und Heizöl. Elektrisch angetriebene Fahrzeuge stellen vor allem in Ballungszentren ein attraktives Fortbewegungsmittel dar. Die elektrischen Antriebe sind effizient und umweltfreundlich. Ihre Bedeutung wird stark wachsen, vor allem wenn der Strom „grün“ und nicht mit überhöhten Preisen belastet ist.
Damit Strom aus Erneuerbaren verstärkt in allen Sektoren eingesetzt werden kann, brauchen wir viel mehr Wind- und Sonnenenergie als heute. Unsere Berechnungen zeigen, dass sich der Strombedarf bis 2050 verdoppeln könnte, wenn nicht insgesamt massiv Energie eingespart wird. Sollen bis dahin mindestens 80 Prozent weniger Treibhausgase ausgestoßen werden als 1990 – so sieht es die Bundesregierung in ihrem Energiekonzept vor –, müsste die Kapazität aus Wind- und PV-Anlagen gegenüber der heute installierten Leistung von 90 Gigawatt auf das Fünf- bis Siebenfache anwachsen.
Schon jetzt ist aber absehbar, dass dieser gewaltige Ausbau der Erneuerbaren auf massiven Widerstand stoßen kann. Proteste gegen neue Windräder oder Stromtrassen dürfen nicht ignoriert werden, im Gegenteil: Die Bevölkerung muss die Energiewende mittragen und mitgestalten.
Um die Bürgerinnen und Bürger ins Boot zu holen, sollten wir alles tun, um den Ausbau von Windkraft und PV zu begrenzen. Das heißt natürlich, wir müssen Energie effizienter nutzen und einsparen. Auch der gezieltere Einsatz von Bioenergie und der Ausbau von Solarthermie und Geothermie können dazu beitragen, dass weniger Windräder und PV-Anlagen gebaut werden.
Setzen wir künftig auf grünen Strom als zentralen Energieträger, brauchen wir im großen Umfang Kurz- und Langzeitspeicher, um die volatile Einspeisung der Wind- und Sonnenenergie auszugleichen. Pumpspeicher und Batterien können nur kurzzeitige Schwankungen der Stromversorgung teilweise abfedern. Für die Langzeitspeicherung eignen sich flexible Elektrolyseanlagen zur Herstellung von Wasserstoff und dessen Weiterverarbeitung zu synthetischen Brenn- und Kraftstoffen. Wasserstoff und synthetisches Methan können im vorhandenen Erdgasnetz gespeichert werden.
Synthetische Brenn- und Kraftstoffe werden aufgrund ihrer Speicherfähigkeit in Zukunft immer wichtiger. Sie können außerdem sehr gut im Fernstrecken-, Schiff- oder Flugverkehr eingesetzt werden, wo rein elektrische Lösungen nicht sinnvoll oder ökonomisch sind. Außerdem fallen künftig in wind- und sonnenreichen Zeiten im Vergleich zu heute riesige Mengen Strom aus erneuerbaren Quellen an, die nicht direkt genutzt, elektrisch gespeichert oder exportiert werden können. Anstatt sie „abzuregeln“, sollten sie in speicherbare Energieträger umgewandelt werden. Damit helfen sie, wetterbedingte und saisonale Engpässe auszugleichen. Um ihre Herstellung rentabel zu machen, müssen allerdings die regulatorischen Rahmenbedingungen angepasst werden.
Doch sind wir damit bereits umfassend gegen „kalte Dunkelflauten“ gewappnet? Unsere Berechnungen zeigen: Damit das Energiesystem auch in mehrwöchigen wind- und sonnenarmen Perioden versorgungssicher bleibt, kommt es nicht ohne Reservekapazitäten aus. Emissionsarme Gaskraftwerke, Brennstoffzellen und Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen kommen dafür infrage. Deren Gesamtkapazität wird allerdings genauso hoch sein müssen wie die heutiger thermischer Kraftwerke.
Um Deutschland auf einen klimafreundlichen Kurs zu bringen, müssen wir viel Geld in die Hand nehmen. Je nachdem, wie viel CO2 eingespart werden soll, liegt die Summe der Mehrkosten bis zum Jahr 2050 schätzungsweise zwischen 1000 und 3000 Milliarden Euro. Wenn wir ein realistisches CO2-Reduktionsziel von 85 Prozent annehmen, wird die Energiewende die deutsche Gesellschaft im Mittel jährlich etwa 60 Milliarden Euro, das heißt zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts, kosten.
Damit die Ziele erreicht werden und die Mehrkosten nicht ins Uferlose steigen, brauchen wir verlässliche politische Steuerungselemente. Aus unserer Sicht kann nur ein wirksamer, alle Sektoren und Energieträger umfassender CO2-Preis dazu beitragen, die Klimaschutzziele kostenoptimiert zu erreichen. Wir empfehlen, entweder das europäische Emissionshandelssystem (ETS) auf alle Sektoren auszuweiten und einen Preiskorridor mit einer vernünftigen Untergrenze festzulegen. Oder es könnte eine nationale CO2-Steuer ergänzend zum ETS eingeführt werden. Bisherige Steuern, Umlagen und Abgaben könnten dadurch ersetzt oder stark abgebaut und vereinfacht werden. Natürlich werden zusätzlich ergänzende Maßnahmen notwendig sein, um Hemmnisse abzubauen und soziale Schieflagen zu vermeiden.
Für die Einführung eines einheitlichen CO2-Preises gibt es national und international viele Befürworter. Auch beim „One Planet Summit“ in Paris wurden die Weichen zaghaft in Richtung CO2-Preis gestellt. Umwelt- und Klimaminister aus Frankreich, Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Schweden und den Niederlanden verpflichteten sich, die Einführung eines solchen Preises in allen relevanten Sektoren zu prüfen oder umzusetzen. Schon im Vorfeld des Gipfels hatte ein Bündnis aus 54 Großkonzernen die G20-Staaten dazu aufgefordert, Subventionen für fossile Energieträger abzubauen und einen CO2-Preis festzulegen.
Doch nur wenn auf diese Diskussionen Taten folgen, können wir ein nachhaltiges Energiesystem ohne fossile Energieträger aufbauen. Und nur dann wird es gelingen, auch die Chancen der Energiewende zu nutzen. Denn der Umbau der Energieversorgung ermöglicht es, neue Märkte zu erschließen. Deutschland als Hochtechnologiestandort muss diese Gelegenheit nutzen und eine Pionierrolle einnehmen. Hält sich die Politik jedoch zu lange mit Sondierungen und weichgespülten oder zögerlichen Maßnahmen auf, werden wir scheitern. Die Energiewende braucht einen Wendepunkt – und zwar jetzt.
Der Physiker Eberhard Umbach war von 2009 bis 2013 Präsident des Karlsruher Instituts für Technologie KIT und ist Mitglied des Präsidiums von Acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften. Im Akademienprojekt „Energiesysteme der Zukunft“ (ESYS) hat er zusammen mit Hans-Martin Henning (Fraunhofer ISE) die Arbeitsgruppe „Sektorkopplung“ geleitet. Im November 2017 hat sie ihre Ergebnisse in Form einer Stellungnahme und einer Analyse veröffentlicht.