Standpunkte Wir lassen uns nicht ausbremsen!

Nordrhein-Westfalen hat alles für eine erfolgreiche Energiewende parat, schreibt LEE NRW-Vorstandsvorsitzender Reiner Priggen in seinem Standpunkt.

von Reiner Priggen

veröffentlicht am 18.08.2017

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Rund 90 Kilometer Autobahn liegen vor uns: von meiner Wahlheimat Aachen bis in die Landeshauptstadt Düsseldorf. An diesen neunzig Kilometern lässt sich vieles skizzieren, was derzeit bei uns im Westen los ist. Welche Potenziale in NRW schlummern, was wir schon geschafft haben und wohin die Reise noch gehen kann – wenn man den Fuß von der Bremse nimmt.


Als ich meine politische Laufbahn begann, rauchten überall im Land die Schlote – Energiewende, Digitalisierung und E-Mobilität lagen noch in weiter Ferne. Für die einstündige Fahrt Aachen – Düsseldorf stieg man natürlich in einen Benziner oder Diesel. Gerne aus deutscher Produktion, etwa aus Wolfsburg oder Stuttgart. Daran hat sich jahrzehntelang nichts geändert. Bis jetzt. In Deutschland tobt der Dieselskandal und die ehrwürdigen deutschen Autobauer demontieren in Eigenregie diese Schlüsselindustrie Deutschlands. Man fragt sich schon lange, warum eigentlich, denn die Zukunft der Mobilität hat längst begonnen.


Neue Energie für die Zukunft


An unserem Startpunkt in Aachen macht der „Street Scooter“ schon seit längerem viel Wirbel in der Automobilbranche. Die Ausgründung der RWTH Aachen ist in aller Munde, wenn es um E-Transporter geht, die hier für die Deutsche Post produziert werden. Denn die will bis spätestens 2050 emissionsfrei ausliefern. Dafür hat das Unternehmen gerade erst eine Partnerschaft mit Ford verkündet. Gemeinsam will man Europas größter Produzent von emissionsfreien E-Transportern werden. Bis zu 20.000 davon sollen bald jährlich an zwei Standorten in NRW produziert werden. Wohlgemerkt in Kooperation mit einem amerikanischen Autobauer. Von der deutschen Autoindustrie wurde man in Aachen lange Zeit belächelt. Eine weitere Ausgründung bringt den „e.GO-Life“ auf die Straße; einen günstigen, kompakten Stromer mit ausreichend Reichweite für den Stadtverkehr. Die Entwickler streben wie beim Scooter das emissionsfreie Fahren an und weisen nachdrücklich darauf hin, dass dafür noch deutlich mehr regenerativer Strom aus Solar- und Windenergie kommen muss. Denn erst dann zeigt sich die E-Mobilität von ihrer besten Seite. Ein klarer Fingerzeig der Start-Ups aus dem Westen.
Auch in Aachen konzentriert sich der Energieversorger Trianel ganz auf die drei Megatrends im Energiesektor: Erneuerbare Energien, Flexibilisierung und Digitalisierung. Die Digitalisierung gilt hier als Schlüsselelement. Ob Energiedatenmanagement, Smart Metering, Fernsteuerung von Erneuerbare-Energien-Anlagen – die dezentrale und regenerative Energiewelt ist ohne intelligente und schnelle IT-Systeme nicht denkbar.
Digitalisierung und Energiewende gehen also Hand in Hand. Aber nicht nur bei der digitalisierten Energiewende. Auch die Granden des Internets haben sich schon längst 100 Prozent Erneuerbare auf die Fahne geschrieben. Apple ist mit 83 Prozent Anteil Spitzenreiter. Facebook folgt mit 67, Google mit 56 Prozent. Ganze Solarfarmen und Windparks betreiben die dominierenden Technikfirmen. Als Trump den Ausstieg der USA aus dem Pariser Weltklimavertrag verkündete, stieß das auf großes Unverständnis im Silicon Valley. Das sollte ein Fingerzeig an diejenigen sein, die auf der einen Seite die Digitalisierung beschwören und auf die deutschen Facebooks und Googles von morgen hoffen, aber auf der anderen Seite eine Vollbremsung beim Ausbau der Erneuerbaren hinlegen. Die Macher von morgen, auch jene aus dem „Rheinland-Valley“, setzen klar auf Wind und Sonne.


Jetzt in großem Maßstab Solarstrom ausbauen


Nachdem wir in unserem Stromer auf dem Weg nach Düsseldorf Aachen verlassen haben, kommen wir nach etwa einer halben Stunde an Jülich vorbei. Das gleichnamige Forschungszentrum arbeitet hier an den Schlüsseltechnologien für morgen. Spitzenforschung auf höchstem Niveau etwa zu Speichern und Photovoltaik. Auch am Campus Jülich der FH Aachen beschäftigt man sich am Solar-Institut mit der Forschung und Entwicklung der Solarenergie-Nutzung.
Neben der Windenergie ist die Solarenergie die Zukunftsenergie schlechthin. Über 50 Prozent des gesamten Stromverbrauchs und über 100 Prozent des gesamten privaten Sektors in NRW könnten wir damit abdecken. Dabei sind 95 Prozent der Dachflächen in NRW noch ohne PV-Anlage, was geradezu fahrlässig ist! Daher irritiert es doch sehr, dass die Photovoltaik mit keiner Silbe im Koalitionsvertrag erwähnt wird. Möglichkeiten gäbe es genug: Die Landesregierung könnte sich etwa zur Erleichterung von Investitionen und zum Abbau bürokratischer Hürden für eine Optionsmöglichkeit für Unternehmen einsetzen: Wegfall der EEG-Umlage auf selbst erzeugten Solarstrom und Wegfall der Stromsteuer. Im Gegenzug Verzicht auf Förderung durch das EEG. Für viele Unternehmen würde das den Einstieg in die solare Selbstversorgung erleichtern. Der Solarmarkt würde angekurbelt und gleichzeitig das EEG-Konto entlastet.
Ohne einen massiven Ausbau der Solarenergie, gerade auch im gewerblichen Sektor, können wir den drastisch ansteigenden Strombedarf im Verkehrsbereich nicht abdecken. Denn so lobenswert das Engagement der Bürgermeister für saubere Luft in ihren Städten auch ist: wie schon oben erwähnt, macht die E-Mobilität nur mit regenerativem Strom Sinn. Ansonsten verschieben sich nur die Emissionen von der Stadt zu den CO2-Schleudern auf dem Land. Kohleverstromung löst das Problem nicht. Das führt uns zu unserem letzten Streckenabschnitt.


Raus aus der Kohle


Der Weg nach Düsseldorf führt jetzt im großen Bogen um die Krater- und Mondlandschaft Garzweiler. Jahr für Jahr werden hier Millionen Tonnen Kohle aus der Erde geholt, der „einzige heimische und wettbewerbsfähige Rohstoff“ laut neuer Landesregierung. Wirklich? Sonne und Wind gibt es zunächst zum Nulltarif. Davon auch ausreichend in NRW, wie Potenzialstudien des Landes zeigen. Und die Preise, um daraus nutzbaren Strom zu machen, fallen kontinuierlich. Strom aus Wind und Sonne ist längst günstiger als aus fossilen Quellen. Von den externen Kosten der Kohleverstromung, der CO2-Belastung, steigenden Gesundheitskosten und der unwiederbringlichen Zerstörung des Naturraums ganz zu Schweigen. Kritiker weisen an dieser Stelle gerne darauf hin, dass sich unsere CO2-Bilanz gar nicht verbessert habe. Jenen rate ich mal einen Blick auf die vermiedenen Treibhausgase durch die Energiewende. Ohne Erneuerbare läge unser Treibhausgasausstoß laut BMWi jährlich etwa 118 Millionen Tonnen höher – konservativ gerechnet.
Neben der Kraterlandschaft Garzweiler stehen zwar auch schon einige Windenergieanlagen. Nach dem Willen der Landesregierung werden allerdings keine neuen mehr hinzukommen. Denn nach derzeitigem Stand werden schätzungsweise 90 Prozent der für die Windenergie geeigneten Flächen mit den Plänen der Landesregierung wegbrechen. Die bundesweiten Ausschreibungen erledigen vielleicht den Rest. Sollte nach der Bundestagswahl auch noch an der Privilegierung der Windenergie im Außenbereich gesägt werden, steht die Energiewende in NRW und im Bund vor dem Aus. Von den Klimaschutzzielen können wir uns dann getrost verabschieden. Ebenso von jährlich etwa einer Milliarde Euro Investitionen und einem Teil von gut 18.500 Arbeitsplätzen am Wirtschaftsstandort NRW – die Windenergie ist längst größter Investor in Kraftwerkstechnik im Land. Das hat unlängst auch für Kritik 16 großer Stadtwerke und Kommunalversorger im Land gesorgt, die Ihre Geschäftsmodelle bereits an die Energiewende angepasst haben.


Chancen ergreifen


Nachdem wir Garzweiler hinter uns gelassen haben, kommen wir über den Rhein in die Landeshauptstadt. Hier am Düsseldorfer Rheinufer liegt vor uns die „Kathedrale der Kraftwerkstechnik“, das modernste Gaskraftwerk Deutschlands der hiesigen Stadtwerke: Hohe Wärmeauskopplung mit der Einbindung solarer Wärme und industrieller Abwärme und technisch in der Lage, später auch mit regenerativ erzeugtem Speichergas Spitzenlasten abzudecken. So sieht Energiezukunft in einem Ballungsraum aus.


In Düsseldorf wird aber auch entschieden, ob wir in diese Energiezukunft, in ein erneuerbares, digitalisiertes, emissionsfreies NRW durchstarten oder nicht.
Wir haben gesehen, dass die Energiewende längst eine große wirtschaftliche und industrielle Dynamik entfaltet hat, die das Land nach vorne bringt. Durch diese High-Tech-Produkte entstehen Arbeitsplätze, Wertschöpfung und weltweit gefragtes Know-How – angetrieben von neuer Energie. Es ist an der Politik, diese Entwicklung in allen Bereichen zu fördern. Bei der Windenergie leitet Schwarz-Gelb gerade eine Vollbremsung ein. Bei der Solarenergie, der Bioenergie, der Wasserkraft und Geothermie findet die Koalition offenbar noch keinen Gang. Bei der E-Mobilität soll es mit Vollgas vorangehen. Womit der Akku lädt, wird dabei aber bisher noch außer Acht gelassen. Bei der Digitalisierung schließlich wähnt man sich auf der richtigen Spur, nimmt aber offenbar die Zeichen der Zeit nicht wahr.
Die guten Ansätze sind zwar da, aber die entscheidende Komponente für eine stimmige Erfolgsstory im Westen fehlt. Dabei steht in NRW alles auf „Go“: Energiewirtschaft, Stadtwerke und Kommunalversorger, die klugen Köpfe an den Universitäten und Forschungseinrichtungen im ganzen Land, die Autobauer der Zukunft und der industrielle Mittelstand, die Werkbank NRWs. Nicht zuletzt die überwältigende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger steht nach wie vor hinter der Energiewende.
Nehmen wir also endlich den Fuß von der Bremse!


Rainer Priggen ist Vorstandsvorsitzender des Landesverbands für Erneuerbaren Energien (LEE) in NRW.

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