„Wir sollten uns statt auf 2020 auf das Jahr 2030 konzentrieren“

Der Chef von Vattenfall Deutschland, Tuomo Hatakka, über die Klimaziele, den Kohleausstieg bei der Wärmeversorgung und die Wirtschaftlichkeit von Power-to-Heat.

veröffentlicht am 05.11.2017

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Herr Hatakka, die Atomkraftwerke von Vattenfall sind außer Betrieb, sie haben ihre großen Braunkohlekraftwerke vor einem Jahr verkauft. Ist Vattenfall überhaupt noch ein Energieriese oder nur noch das Stadtwerk von Berlin und Hamburg, wenn auch in schwedischer Hand?


Wir haben hier in Deutschland beinahe 3,5 Millionen Strom- und Gaskunden und 1,5 Millionen Wärmekunden. Dazu kommen die Strom- und Wärmenetze und außerdem sind wir führend bei der Erzeugung von Windstrom auf dem Meer. Deutschland ist ein sehr wichtiger Markt für Vattenfall. Wir fühlen uns sehr wohl hier.


Investieren sie noch nennenswert oder bleiben Sie bei ihrem bestehenden Geschäft?


Ja, natürlich, im Endkundengeschäft mit Strom und Gas, aber auch in Fernwärme und dezentrale Wärmeversorgung. Und natürlich in erneuerbare Energien, zum Beispiel Windkraft. Wie gesagt:  Deutschland ist für uns ein echter Wachstumsmarkt. Zu ihrer Eingangsfrage noch einmal: Wir sind und bleiben einer der führenden Energiedienstleister in Deutschland. Auf lange Zeit.


Können sie konkrete Ziele für das Wärmegeschäft nennen?


Wir haben europaweit etwa zwei Millionen Fernwärmekunden, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Städten wie dem schwedischen Uppsala und in den Niederlanden. Ich gehe davon aus, dass wir die Kundenzahl in Deutschland jedes Jahr um etwa 30.000 steigern können. Das zweite Thema sind dezentrale Lösungen, also Angebote für Kunden, die nicht an ein Leitungsnetz und eine zentrale Wärmeerzeugung angeschlossen sind. Auch da wollen wir richtig wachsen. Wir wollen aber auch geographisch expandieren und planen den Einstieg in den Wärmemarkt in Großbritannien. Der Wärmemarkt hat strategische Priorität für Vattenfall, weil wir dort besonders erfahren sind.


In Berlin bauen sie ab dieser Woche drei riesige Anlagen, die unter Einsatz von Strom Warmwasser erzeugen. Die maximale Leistung liegt bei 120 Megawatt, das ist so viel wie ein mittelgroßes herkömmliches Wärmekraftwerk. Bitte erklären sie, wie das funktioniert.


Wir bauen Europas größte Power-to-Heat-Anlage am Standort Reuter in der Siemensstadt, die Leistung entspricht etwa 60.000 Wasserkochern, wie man sie von zu Hause kennt. Das Ganze kostet etwa 25 Millionen Euro  . Wenn die Anlage fertig ist, kann 2020 das Steinkohle-Heizkraftwerk Reuter C außer Betrieb gehen. Damit machen wir Berlins Wärmeerzeugung deutlich klimafreundlicher, denn Reuter C wird mit Steinkohle beheizt. Die Anlage ist aber Teil einer größeren, umfassenderen Strategie.


Und die lautet?


Im Wärmemarkt wollen wir Dekarbonisierung, Digitalisierung und Dezentralisierung erreichen. Das heißt vor allem: Innerhalb einer Generation wollen wir Wärme erzeugen und liefern, ohne dass dabei Treibhausgase entstehen. Also: Raus aus der Kohle. Und damit machen wir schon jetzt ernst. Den Einsatz von Braunkohle imKraftwerk Klingenberg an der Spreehaben wir im Frühjahr beendet. Seitdem ist Braunkohle bei Vattenfall endgültig Geschichte. Reuter C folgt, wie gesagt, 2020. Danach kommen die Kraftwerke Moabit und Reuter West. Bis spätestens 2030 wollen wir den Kohleausstieg geschafft haben.


Wie ersetzen sie die Kohle? Nur mit wertvoller Elektrizität?


Nein. Teilweise mit Gas, teilweise mit Biomasse, teilweise mit Abfall-Wärme, die zum Beispiel in der Industrie oder in Müllverbrennungsanlagen entsteht und momentan noch nicht genutzt wird. Und eben auch Power-to-Heat. Denn es gibt immer größere Überschüsse an Strom aus erneuerbaren Energien, wenn besonders viel Wind weht und die Sonne intensiv scheint. Das nutzen wir.


Warum lohnt sich das jetzt für sie?


Technisch entdecken wir damit nicht Amerika neu. Aus Strom Wärme zu machen, das kennt man wie gesagt zu Hause vom Tauchsieder. Die Effizienz in der Energieumwandlung ist schon immer gut. Es wird aber interessanter, weil wir eben immer häufiger sehr schwankende und eben auch niedrige Preise an den Strombörsen erleben. Das liegt an den erneuerbaren Energien, die zumindest zeitweise immer höhere Überschüsse produzieren.


Strom ist aber im Schnitt dennoch viel teurer als zum Beispiel Gas oder sogar Öl. Wie sieht die Rechnung genau aus?


Wir sparen die Brennstoffkosten für Kohle, Öl oder Gas. Wir verzichten auf Öl- und Gaskessel, die wir sonst für die Zeiten enorm hohen Wärmebedarfs, also wenn es sehr kalt ist, bereithalten müssen. Und wir überlegen auch, ob wir die Anlagen für die Regelenergie einsetzen können. Denn wenn man schnell und zuverlässig den Elektrizitätsbedarf der Anlage herauf- und heruntersteuern kann, dann gibt es dafür am Strommarkt zusätzliches Geld, weil man damit die Schwankungen von anderen Kraftwerken im europaweiten Netz ausgleichen kann. Teil der Rechnung ist aber auch: Wir sammeln wichtige Erfahrungen, wir lernen. Die Anlage ist zudem vergleichsweise günstig. 400 bis 500 Betriebsstunden pro Jahr reichen aus, um in die schwarzen Zahlen zu kommen.


Das sind umgerechnet nur etwa drei Wochen pro Jahr.


Wir rechnen konservativ. Vielleicht werden es mehr.


Das Problem ist doch aber: Wer sagt denn, dass es besonders kalt ist, wenn die Strompreise niedrig sind? Gerade die Windkraft produziert eher dann viel Strom, wenn warmes, feuchtes, windiges Wetter herrscht und nicht so viel Wärme benötigt wird.


Sie haben recht: Power-to-Heat ist kein Wundermittel, weil es eben noch recht selten eingesetzt wird, sondern eine Lösung unter mehreren. Die Politik hat darauf aber Einfluss, wie wichtig Power-to-Heat wird. Wir zahlen jede Menge Abgaben für den Strom, den wir in der Anlage einsetzen. Nur, wenn sich das ändert, werden die Anlagen richtig lohnend. Dann werden wir weitere bauen.


Welche Abgaben meinen Sie?


Wir müssen zum Beispiel die Umlage bezahlen die in den Betrieb von Ökostrom-Kraftwerken fließt, die sogenannte EEG-Umlage. Das sollte die neue Bundesregierung ändern, denn mit Anlagen wie am Standort Reuter helfen wir ja, das Stromnetz stabiler zu machen. Die Wärmewende muss aber auch an anderer Stelle in Gang kommen. Die Gefahr, dass das deutsche Klimaziel 2020 verpasst wird, ist auch deshalb so hoch, weil sie im Wärmebereich kaum Fortschritte gemacht hat.


Woran liegt das?


Fernwärme, die besonders effizient und umweltfreundlich ist, hat nur einen Anteil von 15 Prozent, in Berlin immerhin 30 Prozent. Es kann viel mehr sein, gerade in den Großstädten. Und auch bei den dezentralen Lösungen wurde bisher nicht darauf geachtet, dass deren Umweltverträglichkeit hoch ist. Fast 30 Prozent heizen noch mit Öl, der Einbau einer neuen Ölheizung wird sogar staatlich gefördert. Das ist mit Blick aufs Klima totaler Unsinn. Da gibt es also dringenden Handlungsbedarf für die neue Bundesregierung. Denn so kann es nichts werden mit der Energiewende. Digitalisierung leistet auch einen wichtigen Beitrag zur Wärmewende. Wir ersetzen alle 19.000 Wärmezähler in Berlin mit digitalen, steuerbaren Zähler. In den kommenden zwei Jahren. Und das ohne staatliches Förderprogramm.


Warum lohnt sich das?


Weil wir damit unsere Wärmeerzeugung optimieren können. Wir können damit jederzeit sehen, wer wie viel Wärme nutzt. Damit können wir die Reserven im System reduzieren, die Sicherheitsmarge sinkt. Das spart richtig Brennstoff und CO2 ein. Und natürlich wird der Service effizienter und für alle bequemer, niemand muss mehr zum Ablesen kommen. Das spart viel Geld.


Sie haben die deutsche Politik bereits kritisiert, sie lege ihnen Steine in den Weg. Freuen Sie sich auf eine Jamaika-Koalition, falls es damit klappt?


Bei der Stromwende sind wir erfolgreich. Das ist eine Riesenleistung. Darüber freuen wir uns, es wird immer mehr Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt. Aber die Wärmewende war bisher nicht im Fokus, wie gesagt. Und auch im Verkehr hat sich wenig getan. Ich bin insgesamt optimistisch und vertraue einer neuen Regierung, die Probleme endlich anzupacken.


Umstritten ist derzeit, ob das Klimaziel 2020 überhaupt noch zu schaffen sind. So, wie es im Moment aussieht, gelingt es lediglich, die Emissionen um gut 30 Prozent zu senken. Versprochen hat Kanzlerin Angela Merkel immer wieder 40 Prozent. Die Grünen pochen in den Koalitionsgesprächen darauf, die FDP und viele in der Union sind aber skeptisch. Ist es überhaupt noch sinnvoll, gut zwei Jahre vor der Zielmarke radikale Maßnahmen zu ergreifen?


Es ist immer wichtig, Aktionismus zu vermeiden. Es gibt schließlich neben dem Ziel des Umweltschutzes auch die Versorgungssicherheit und die Bezahlbarkeit, die erhalten bleiben müssen. Wir sollten uns also statt auf 2020 auf das Jahr 2030 konzentrieren und das Ziel von 55 Prozent Emissionsreduktion vernünftig und mit Entschlossenheit angehen. Ich bevorzuge dafür eine Marktlösung. Sprich: Klimaschädliche Emissionen müssen einfach teurer werden. Am besten wäre es, wenn der europäische Emissionshandel in Gang kommt und mit hohen CO2-Preisen die Richtung vorgibt. Wir brauchen mehr Europa, nicht weniger.

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