Die USA haben sich neu orientiert. Den Beschreibungen sind die Superlative ausgegangen. Was hierzulande seit vielen Jahren als Riss in Amerika diskutiert wurde, bahnt sich nun disruptiv in neue politische und technologische Doktrinen seinen Weg. Die „New York Times“ ist dazu übergegangen, anstelle von Nachrichten über News-Ticker über die Reformen der Trump-II-Administration zu informieren. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz kündigten die USA die gemeinsame Verteidigung in der Nato ebenso auf wie die Bereitschaft, die kulturellen Diskrepanzen zu überbrücken. Und Europa schaut zu und staunt.
Europas Sonderstellung ist nicht länger. Im hohen Tempo richtet sich die neue US-Administration auf Asien aus – und auf den Weltraum. Entlarvend für uns Europäer ist der Grad der Empörung. Es ist dieselbe Empörung, die Trump seit 2016 entgegengebracht wurde. Heißt es bei einem russischen Präsidenten wie Wladimir Putin oder dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping, dass man diplomatische Zurückhaltung unabhängig von der persönlichen Bewertung an den Tag legen sollte, scheint diese Gepflogenheit für die USA nicht zu gelten. Sind sie doch der engste Verbündete, quasi Teil der Familie.
„If you can’t dream it, you can’t build it“
Relevant ist all das nicht nur aufgrund der militärischen Hegemonie, sondern gerade auch aufgrund der Technologieführerschaft. Die Digitalwirtschaft wurde in den USA erfunden – das Silicon Valley ist in Nachbarschaft zu Hollywood. In beiden verwirklichten die Hippies der 60er den wunderschönen Satz: „If you can’t dream it, you can’t build it.“ Die USA agieren aus einer Position der Stärke heraus. Europa schimpft aus einer Position der Schwäche. Doch der Ärger trübt die Urteilskraft. Diese kulturellen Unterschiede erscheinen nunmehr unüberbrückbar. Nirgends zeigt sich der Unterschied so deutlich wie im Umgang mit der Technologie und dem Fortschritt.
In Europa dominiert die Überzeugung, dass aus guten Regeln auch gute Ergebnisse folgen. Währenddessen verkörpern die USA einen Erfinder- und Pioniergeist, getragen vom Nationalmythos der Erforschung der „Western Frontier“, globalisiert als die Fiktion der „Final Frontier“ – den „Unendlichen Weiten“ von Star Trek, die mehrere Generationen prägten. Diese Art von Avantgarde ist Europa fremd. Das Konservieren ist hierzulande wichtiger als der Forscher- und Entdeckerdrang. Was Einzelnen schaden könnte, gehört in Europa verboten. Was vielen nützen könnte, wird in den USA forciert. Mit anderen Worten: Individualethik versus Utilitarismus. In Europa wird die Technologie zuallererst auf das Böse hin befragt: Wie könnte sie schaden? In den USA umgekehrt: Wie könnte sie nützen?
Skepsis vs. Stargate
Das wirkt politisch: Die internationale regelbasierte Ordnung als Ausdruck der „Rule of Law“ galt als die überlegene Form von Zivilisation. Die USA waren ihr Rückgrat seit dem 2. Weltkrieg. Doch nun lehnen sie ebendiese als hinderliches Korsett ab. Sie setzen nun Stärke, Dezisionismus und Deal-Making entgegen. Ein hierzulande befremdliches Vokabular. Wohlklingender erscheinen doch Good Governance, ESG-Taxonomie und Compliance als europäische Tugenden – das Haute Couture der technikskeptischen Verwaltung. Wie der französische Hof zu Zeiten der amerikanischen Revolution blicken die ‚zivilisierten‘ Europäer auf die Amerikaner, die sich nicht benehmen können.
Das angekündigte Stargate-Programm verkörpert diese Unterschiede: 500 Milliarden USD um Krebs zu heilen. Für immer. Die Ambition, den Mars zu besuchen – und zu kolonisieren. Der strategische Anspruch, Rohstoffgewinnung im Weltraum zu ermöglichen und gegen andere Nationen abzusichern. Gesten der Stärke, der Dominanz und des Pioniertums. Diese Art von Ambition ist nicht allein den USA vorbehalten. Man stelle nur die Neujahrsansprachen von Xi Jinping denjenigen von Olaf Scholz gegenüber. Dafür geht die Trump-Administration ein geradezu familiäres Bündnis mit der Technologie-Elite der USA ein. Die Herrschaft verschmilzt mit der Technologie – und zwar anders als das chinesische Modell. Das Bündnis mit der Technologie-Elite verschafft dem Begriff der „Digitalen Souveränität“ eine völlig neue Bedeutung. Die Technologie wurde quasi in die Herrschaft absorbiert und von innen her forciert. Man stelle sich vor, Ursula von der Leyen würde Hasso Plattner in die EU-Kommission berufen, um ihm exekutive Rechte zu verleihen.
Was in Europa ebenfalls in Vergessenheit geriet: Auch gute Regeln basieren auf Durchsetzbarkeit und Sanktionen. Sanktionen erfordern exekutive Kräfte und die Ausbildung von Fähigkeiten. Das Bundeswirtschaftsministerium wies darauf hin, dass „Dual-Use“ eben auch bedeutet, unerwartete zivile Anwendungen und Geschäftsmodelle aus militärischer Forschung gewinnen zu können. Fehlende militärische Investitionen im Laufe von Jahrzehnten summieren sich zu einem generationellen Rückstand.
Europa muss neue Fähigkeiten entwickeln
Die militärische Ausrichtung der USA auf den asiatischen Raum hinterfragt alle landbasierten Rüstungs- und Forschungskooperationen. Die USA kündigen alles auf, was ihnen für diese Ziele nicht nützt. Die To-Do-Listen sind bekannt und werden Punkt für Punkt abgearbeitet. Dazu zählt der Rückbau militärischer Fähigkeiten in Europa, die drastische Reduktion des Militäretats von 8 Prozent jährlich über fünf Jahre – maßgeblich zu Lasten der US-Army – und aller verbundenen landbasierten Fähigkeiten in Technologie und Material, also auch Forschungskooperationen und Rüstungsprojekte. Fähigkeiten der Intelligence werden neu ausgerichtet und die Five-Eyes absehbar grundlegend verändert. Mit dem Brexit ist Europas Zugang zur US-Intelligence bereits geschwunden und droht nun völlig zu entgleiten.
Europa steht mit heruntergelassenen Hosen da und wird schleunigst nachziehen: Verteidigungsindustrie, Defence Intelligence, OSINT-Kooperationen, Resilienzprogramme, Technologieförderungen. Wir können klar absehen, was das alles bedeutet. Die Datenschutzabkommen sind zwar nominell noch in Kraft, aber politisch ebenso hinfällig, wie alle Annahmen über Sicherheitsgarantien von den USA gegenüber der Alten Welt. Eine Politik der Stärke spielt nach dem Spiel „Tit-for-Tat“ – für die Europa neue Fähigkeiten entwickeln muss. Wir werden nun erleben, wie wöchentlich neue Forschungsvorhaben, Ausschreibungen und Verteidigungsbudgets ausgerufen werden.
Für die Cyber-Welt sind die Entwicklungen ebenfalls absehbar. Das Internet und alle damit verbundenen Technologien, von denen man besser als ‚Intertechnik‘ sprechen sollte, leben vom Überwinden von Grenzen. Der freie Datenfluss gab dem Netz der Netze seine Stärke, erlaubte Big Data und darauf aufbauend die phänomenalen Erfolge der LLMs. Doch nun bilden sich neue Grenzen, welche die politischen Barrieren zu Cluster von Normen und von Technologien voneinander trennen. Protektionismus ist genau das: die Beförderung von Abgrenzung, um eine deutliche Unterscheidung von innen und außen hinzubekommen. Beschleunigt von Zöllen und dem Hochhalten politischer Haute Couture eines Datenschutzes in Europa gegenüber dem radikalen Abbau regulatorischer Schranken in den USA. China entwickelt durch Sanktionen erzwungen ein eigenes technologisches Ökosystem mit neuen Betriebssystemen und einer Great Firewall, Russland wurde ebenfalls isoliert, und über Indien und die arabischen Königreiche wird gar nicht erst gesprochen.
Europa: Macht statt Markt
Wie bilden wir heute Informatiker aus, um diese Segregation in verschiedene Technologie-Biotope zu verstehen und zu meistern? Der einfachste Weg wäre, eine europäische Dominanz und technologische Stärke zu entwickeln. Also im Spiel der Kräfte und Tech-Ökosysteme mehr als nur ein Markt zu sein. Vielmehr eine digitale Großmacht, die durch Ausbildung und digitale Infrastruktur alle Lebensbereiche so durchdringt, dass sie zumindest innerhalb der Grenzen Europas die Durchlässigkeit der Daten und Anwendungen erlaubt.
Die Europäische Union und ihre Mitgliedsnationen stehen vor der Frage, welche Stärke sie entwickeln wollen. Die ökonomische Macht ist vorhanden, um die vielen Milliarden der USA zu kompensieren. Der Zeitdruck tut sein Übriges, die warnenden Analysen über absehbare Aggressionen Russlands und Chinas sind gut begründet und folgen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Der politische Wille scheint sich endlich zu bilden. In der Kränkung durch die Zurückweisung der USA liegt die erzwungene Chance: Wie beim anthropologischen Mangelwesen sind Unangepasstheit und Schwäche immer auch Weltoffenheit und Fantasie: If you can dream it, you can build it!
Martin Wolff ist Unternehmer, lehrt zur Digitalen Souveränität am Hasso-Plattner-Institut und leitet das Clausewitz Netzwerk für Strategische Studien an der Führungsakademie der Bundeswehr.
In unserer Reihe „Perspektiven“ ordnen unsere Kolumnist:innen regelmäßig aktuelle Entwicklungen, Trends und Innovationen im Bereich Cybersicherheit ein. Zuletzt von Wolff erschienen: https://background.tagesspiegel.de/it-und-cybersicherheit/briefing/wer-wacht-ueber-die-waechter