Ein bisschen überrascht war Thomas Kahlisch selbst, als er 1999 den Job als Geschäftsführer der Deutschen Zentralbücherei für Blinde bekam, die sich seit 2019 Deutsches Zentrum für barrierefreies Lesen nennt, kurz DZB Lesen. 37 Jahre war er damals jung und nicht der typische bibliophile Wissenschaftler, den man sich an der Spitze der ältesten Institution dieser Art in Deutschland vorstellen würde. Stattdessen ist er promovierter Informatiker und spezialisiert auf barrierefreie Inhalte.
1894 in der Bücherstadt Leipzig von Verlegergattinnen gegründet, sollte das Angebot der Bibliothek an Büchern in Brailleschrift dazu dienen, bettelnde Blinde von der Straße zu holen und Bildungsmöglichkeiten für sie zu schaffen. In der DDR wurde der Bestand weiter gepflegt. Bereits als Jugendlicher lieh sich Thomas Kahlisch regelmäßig Audioaufnahmen auf Tonband oder Kassette aus und ließ sie sich nach Hause nach Lübbenau in den Spreewald schicken.
Wie gestaltet man barrierefreie Webseiten?
Heute erstreckt sich die Medienvielfalt auf Brailledrucke, Hörbücher, Zeitschriften, barrierefreie E-Books, Kataloge und Tastreliefs. Im eigenen Studio nimmt das DZB Lesen in Kooperation mit deutschlandweit zehn vergleichbaren Bibliotheken, die in der Dachorganisation Medibus organisiert sind, Hörbücher auf, und versieht die Cover mit Titeln und Inhaltsangaben in Brailleschrift. Zudem unterstützt das Zentrum kulturelle und wissenschaftliche Einrichtungen in Sachsen bei der Erstellung barrierefreier Informationen. Seit Thomas Kahlischs Amtsantritt vor 20 Jahren hat sich viel getan: Prozesse sind digitaler geworden, mit Einführung des Daisy-Systems, einem weltweiten Standard für barrierefreie Hörliteratur, sind noch mehr Medien online zugänglich.
Als Kahlisch vollständig erblindete, war er 14 Jahre alt. Zuvor war seine Sehkraft bereits stark eingeschränkt und er trug eine dicke Brille. Gar nichts mehr sehen zu können, bedeutete einen herben Einschnitt: „Ich fragte mich, was ich ohne Augenlicht überhaupt noch beruflich werden kann“, erinnert er sich.
Das Smartphone als wichtigster Begleiter
Auf einer Schule für Blinde und Sehbehinderte in Königs Wusterhausen lernte Thomas Kahlisch, sich mit dem weißen Stock zu orientieren und die Braillepunkte zu ertasten. Nach einer Ausbildung zum EDV-Facharbeiter in Chemnitz studierte er an der Universität Dresden Informatik. In den Vorlesungen machte er mit seiner klappernden Braille-Schreibmaschine Notizen, sehr zum Unmut seiner Kommilitonen. „Die Bänke vor und hinter mir blieben immer frei“, erzählt Thomas Kahlisch. Dennoch erhielt er viel Unterstützung, unter anderem einen der ersten aus dem Westen importierten Computerarbeitsplätze.
Neben seiner
Arbeit am DZB Lesen unterrichtet Thomas
Kahlisch heute selbst an Hochschulen. Wenn er sehenden Studierenden der
Universität Leipzig oder der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur die Welt aus seiner Perspektive zeigen möchte,
drückt er ihnen den Blindenstock in die Hand und lässt sie mit einer Augenbinde
die Stadt erkunden. Seine Seminare zur barrierefreien Mediengestaltung geben unter anderem einen Einblick in Brailleschrift, Gebärden- und leichte Sprache und die
Technik, wie Web-Seiten und Dokumente gestaltet sein müssen, dass sie von
jedermann gelesen werden können. Die Seminare sind stark nachgefragt und immer
ausgebucht.
Bedürfnisse von Behinderten bei der Produktentwicklung mitdenken
Um sich in seinem Alltag zurecht zu finden, ist das Smartphone Kahlischs wichtigster Begleiter. Damit schreibt er Nachrichten, E-Mails und führt Telefonate. Er lässt sich über die Sprachausgabe auch Fahrpläne oder Wegbeschreibungen vorlesen. Eine App sagt ihm im Supermarkt, ob er eine Tomatenkonserve oder weiße Bohnen in der Hand hält. Eine weitere registriert, ob er das Licht abends ausgeschaltet hat. Denn auch wenn die erblindeten Augen das helle Licht nicht wahrnehmen, Kahlischs Haut registriert es durchaus und lässt ihn morgens müde aufwachen.
Der wirtschaftliche Erfolg der Firma Apple mit ihren Bedienhilfen für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen ist für Thomas Kahlisch ein gutes Beispiel dafür, dass es sich für Unternehmen lohnt, die Bedürfnisse behinderter Menschen bei der Produktentwicklung mitzudenken. Von der Politik wünscht er sich mehr Mut, das auch – wie es zum Beispiel in den USA bei neuen Lehrmitteln der Fall ist – gesetzlich einzufordern. Judith Jenner