Neulich hatte ich einen Traum von einer besseren Zukunft. Ich sah ein anderes Deutschland im Jahr 2032. Ein Land, das ohne weiteres denkbar wäre, wenn wir die Möglichkeiten nutzen würden, die sich uns jetzt bieten.
Ich hatte ein Land vor Augen, in dem jeder Bürger binnen fünf Minuten die Steuererklärung machen kann. Online, über eine simple, einfach zu verstehende Anwendung. Alle Einnahmen des laufenden Jahres wären bereits digital erfasst worden, sie lägen mir noch einmal zur Kontrolle vor, und mit dem Bestätigungsklick würde ich gleichzeitig auch erfahren, wie hoch meine Rückzahlung ausfiele. Es gäbe weniger Steuerberater. Und viel kleinere Finanzämter.
In diesem Land wäre die Verwaltung komplett digitalisiert. Niemand müsste mehr monatelang auf Termine bei einem heillos überforderten Berliner Bezirksamt warten, um bei einem schlecht gelaunten Sachbearbeiter einen neuen Personalausweis zu beantragen. Alles wäre über geeignete Plattformen binnen Minuten zu regeln.
Das Problem mit den digitalen Identitäten hätten wir mit einer Lösung geregelt, die bereits jetzt auf dem Markt verfügbar ist und funktioniert. Wir würden nicht mehr Jahrzehnte lang eine eigene Anwendung planen, dabei tausend Runden im Hamsterrad der eigenen Ansprüche drehen, nur um am Ende festzustellen, dass wir uns immer noch nicht vom Fleck wegbewegt haben.
Ein einfacher und menschenfreundlicher Staat
Unser Staat würde einfacher, menschenfreundlicher und preiswerter funktionieren. Und die freigewordenen Mittel verwendeten wir dann dazu, noch menschenfreundlicher zu werden. Das Land in meinen Träumen wäre grün, auch in den großen Städten. Die Dächer und die Fassaden wären bepflanzt und würden den Menschen selbst während der zunehmend auftretenden heißen Sommer eine angenehme Abkühlung verschaffen.
Schüler in Deutschland würden nicht mehr auf die jeweiligen Schulclouds in ihren Bundesländern zugreifen, sondern auf ein zentrales System, das aus der bestmöglichen Lösung entwickelt worden wäre. Kein Bundesland könnte es sich noch erlauben, mit dem Argument von der Bildungspolitik als „Ländersache“ weiterhin im Stillen herummurksen zu können. Denn die digitale Welt, in der sich die Schüler irgendwann bewegen und verhalten müssen, ist sehr vielschichtig und wild, aber ganz bestimmt nicht „Ländersache“.
Und wenn ich in meinem deutschen Traumland ein Unternehmen gründen will, dann geht das einfach und binnen einer halben Stunde. Niemand legt mir Steine in den Weg. Der Staat honoriert meine Initiative durch ein Verwaltungssystem, das die niedrigstmögliche Eintrittsschwelle als Standard wählt. Als One-Stop-Shop, versteht sich.
Eine gesunde Fehlerkultur
Es kann sein, dass ich auch in meinem Traumland pleitegehe, dass ich mit meinen Ideen scheitere oder dass sich mein Start-up nach sechs Wochen in Rauch auflöst. Meine deutsche Wunschrepublik ist kein Ort, wo alles Wünschbare per Rechtswisch vom Himmel fällt. Das wäre auch langweilig. Aber es gäbe eine gesunde Fehlerkultur, in der Scheitern nichts Schlimmes ist.
Weil wir in diesem Deutschland, von dem ich geträumt habe, nicht mehr gegenseitig auf die Fehler der anderen lauern, kann auch der Staat mehr wagen: Es gäbe mehr Projekte, in denen Minimal Viable Poducts (MVPs) ausprobiert werden – im vollen Wissen darum, dass es sich dabei noch nicht um fehlerfrei funktionierende Lösungen handelt.
Und, da ich Leiter der des Cyber Innovation Hubs bin, hätte in meinem Traumland natürlich auch das Militär eine andere Rolle. Die Menschen würden besser verstehen, dass die Bundeswehr neben der Landes- und Bündnisverteidigung auch für etwas anderes stehen kann – nämlich technologische Innovation. So wie in den USA, wo die Defence Advanced Research Projects Agency (DARPA) in den vergangenen sechs Jahrzehnten einige entscheidende technologische Durchbrüche erst möglich gemacht hat – zum Beispiel im Falle des Internets, das aus einem DARPA-Projekt entstand.
Alles nur geträumt?
Aber ich spüre, dass der Traum ein Traum bleiben wird, und dass Deutschland im Jahr 2032 anders aussieht, als ich mir das wünschen würde. Und auch anders, als dass es uns möglich wäre.
Das Problem ist nicht die Technologie. Viele Dinge aus meinem Traumland sind ja bereits heute schon verfügbar: In Estland klappt die Steuererklärung tatsächlich in fünf Minuten, eine funktionierende E-Identity gibt es dort auch schon seit zwei Jahrzehnten. One-Stop-Shops sind seit Jahren ein Dauerthema, ohne dass sie in Deutschland umgesetzt werden würden – übrigens genauso wie die grünen Dächer. Die nötigen Lösungen dafür gäbe es längst – genauso wie Initiativen, Strategien und auch konkrete Umsetzungspläne.
Die Corona-Krise hat uns gezeigt, in was für einem kläglichen Zustand die digitalen Lösungen im Bildungssystem sind – besonders in jenen Ländern, wo Schulclouds und Lernplattformen jahrelang ein Nischendasein fristeten. Und die Verbesserung der Fehlerkultur steht wie ein großer, weißer Elefant im deutschen Diskursraum. Alle sagen, dass wir das ändern müssten. Aber keiner macht den ersten Schritt.
Bei allem Respekt vor den Institutionen dieses Landes: Unser Innovationsproblem hat vor allem kulturelle Wurzeln. Es hat mit der Art und Weise zu tun, wie wir mit Problemen umgehen. Wir trauen uns nichts, weil Scheitern auch weiterhin negativ besetzt ist.
Weil das Scheitern so negativ besetzt sind, verlieren wir bei neuen, erprobungsbedürftigen Technologien regelmäßig den Anschluss. Weil wir regelmäßig den Anschluss verlieren, versuchen wir es nachher umso besser zu machen.
Und das sieht dann meist so aus: Es werden so viele Stakeholder wie möglich in den Innovationsprozess geholt, die sämtliche Risiken abwägen und alle Interessen austarieren. Auch hier wieder: Wir wollen keine Fehler machen. Weil wir uns nichts trauen. So dreht sich Deutschland immer wieder im Kreis. Das betrifft übrigens auch die Debatte um die Ausrüstung der Bundeswehr.
Wie könnte mein Traum-Deutschland nun am Ende doch noch Wirklichkeit werden? Vielleicht dadurch, dass wir uns ehrlich machen. Deutsche mögen den Gedanken, dass ihre Probleme einzigartig sind. Und deswegen wollen sie auch immer einen Sonderweg bei der Lösung ihrer Probleme.
Tatsächlich aber steckt die ganze Welt im digitalen Umbruchprozess. Unsere Probleme sind, global gesehen, relativ ordinär – und die Lösungen sind oft schon längst auf dem Markt. Wir müssen das nur endlich akzeptieren lernen.
Sven Weizenegger ist Leiter des Cyber Innovation Hubs der Bundeswehr, eine Innovationseinheit der BWI.
In unserer Reihe „Perspektiven“ ordnen unsere Kolumnist:innen regelmäßig aktuelle Entwicklungen, Trends und Innovationen im Bereich Cybersicherheit ein. Zuvor von Sven Weizenegger im Background Cybersicherheit erschienen: Innovation neu lernen