Cybersecurity ist das Thema der Stunde. Und der Ruf nach Expertenwissen laut. Sollten wir also jetzt nur noch IT-Expertinnen und Experten einstellen? Sollten bei der Strafverfolgung nun alle Cyberermittlerinnen, Cyberanalysten oder IT-Forensikerinnen werden?
Ja und nein. Wir haben einen dramatischen Bedarf an IT-Fachwissen und nicht genügend Leute, die ihn abdecken. Das gilt für den öffentlichen wie den privaten Sektor in gleicher Weise. Aber wir haben noch einen weiteren Bedarf. Der größer wird mit jedem erfreulichen Technik-versierten Neuzugang. Und mein Beruf ist dafür ein sehr gutes Beispiel.
Anfängerin zu bleiben ist Teil meines Jobs
Eine gute Staatsanwältin sollte sachkundig und entscheidungsfreudig sein, sie sollte das große Ganze nie aus den Augen verlieren und klug delegieren können. Aber es gibt eine Fähigkeit, die auf dieser Liste keinen Platz hat: selbst die Expertin zu sein.
Diese Lektion habe ich vor sechs Jahren gelernt, als ich beschloss, die Abteilung für Wirtschaftskriminalität zu verlassen, um Staatsanwältin für Cyberkriminalität zu werden. Damals dachten einige meiner Kollegen, ich hätte den Verstand verloren. Ich hatte Jura und Geschichte studiert, nicht Informatik. Aber nach mehr als einem halben Jahrzehnt im Kampf gegen die Cyberkriminalität kann ich sagen: Gott sei Dank war ich eine solche Anfängerin und bin es bis zu einem gewissen Grad noch heute.
Locker bleiben auf hohem Niveau
Ermittlungen im Cyberraum unterscheiden sich nicht wesentlich von der Projektarbeit in der Tech-Industrie. Drei Faktoren treffen fast immer zu:
- Der Fall ist neu und (genau) so noch nicht dagewesen.
- Der technische Ansatz ist noch nicht vollständig erprobt.
- Es gibt keine rechtliche Standardlösung
Wir fangen immer wieder bei Null an. Wir segeln auf Sicht. Wir haben keine Garantie, dass wir Erfolg haben werden mit unseren Maßnahmen. Wir können auffliegen und uns verirren. Aber genau dieses Risiko ist es, das unsere Ermittlungen immer wieder auf ein neues Niveau hebt.
Warum ist es so wenig ratsam, in dieser Situation die Expertin oder der Experte zu sein? Ist Fachwissen nicht der Schlüssel zum Erfolg? Oft schon, aber nicht für jeden Job. Führen – in meinem Bereich Ermittlungen führen – heißt, zwischen unvereinbaren Welten zu übersetzen. Als Staatsanwältin trage ich die rechtliche Verantwortung für neue technische Ansätze, die noch in keinem Gerichtssaal angekommen sind.
Die Strafprozessordnung wurde nicht für den selbstverständlichen Umgang mit Daten und die nassforsche Dynamik der digitalen Welt konzipiert. Der Cyberraum lässt Regierungen selten genügend Zeit, um sich angemessen an die Entwicklungen im Bereich der Cyberkriminalität oder an technische Durchbrüche anzupassen.
Um das Risiko des Scheiterns zu minimieren und das erforderliche Maß an Rechtssicherheit zu schaffen, muss ich eine vertrauensvolle Distanz zur Technologie wahren. Und das kann ich nur, indem ich zwischen zwei Welten übersetze, die unvereinbarer nicht sein könnten.
Unterschiedliche Rollen spielen – ohne die Ausrichtung zu verlieren
Wenn ich meine Arbeit nur mit den Augen einer Juristin sehen würde, wäre ich keine ausreichende Fürsprecherin neuer technischer Ansätze. Ich muss verstehen, was mein Team von Cyberermittlern technisch vorschlägt, um es rechtlich zu erfassen.
Aber wenn ich dadurch zu technisch denken würde, könnten wichtige Ansätze nicht den Weg in die Rechtsprechung finden. Richterinnen und Richter, denen wir unsere Argumente vortragen müssen, sind im Zweifel keine Cyberexperten. Und ich muss nahtlos mit ihnen kommunizieren. Ich muss in der Lage sein, den Fall so zu erklären, wie es eine Expertin tun würde. Aber ich selbst bin nicht die Expertin. Ich bin die Brückenbauerin.
So hart es klingt: Fachwissen erlaubt es in meinem Job nicht, das ganze Bild zu sehen. Fachwissen schränkt die Perspektive ein. Es verengt den Fokus. Und das ist absolut notwendig, wenn brillante Ideen oder Produkte entwickelt werden. Dass das funktioniert, beweisen die versierten Menschen, mit denen ich kreativ arbeiten darf.
Aber: In der Vergangenheit wurden mir auch technische Ermittlungsansätze vorgelegt, die wir nicht umsetzen konnten, obwohl sie verhältnismäßiger und weniger invasiv waren als die, auf die sich das Gesetz stützt.
Die neuen Ansätze passten einfach nicht in den bestehenden Rechtsrahmen. Das kann frustrierend sein. Es ist frustrierend. Aber in meinem Beruf geht es nicht um den Einzelfall. Wenn man im juristischen Neuland unterwegs ist, muss man immer zwei Schritte vorausdenken.
Ermittlungsführung geschieht aus gewisser Distanz
Ohne diesen Sicherheitsabstand hätten wir die Datenbank von „Wallstreet Market“, dem einst zweitgrößten illegalen Darknet-Marktplatz der Welt, nicht sichern können. Oktober 2018: Der gesamte Fall hing am seidenen Faden. Ich musste eine Richterin, die sich üblicherweise mit Drogenhändlern und Steuerhinterziehern befasst, davon überzeugen, dass wir eine ganze Datenbank sowohl verdeckt als auch aus der Ferne beschaffen dürfen.
Um diese Richterin von einem technischen Ansatz zu überzeugen, der in Deutschland noch nie zuvor angewandt worden war, musste ich mich von der Begeisterung der Techniker lösen. Und von dem Druck, den ich spürte: Kollegen aus mehreren Ländern beobachteten aufmerksam, was in Deutschland geschah. Ein holländischer Kollege fragte mich damals bei einer Konferenz in Wien mit einem dampfenden Kaffee vor sich: „What about the paper work, Jana?”
Es war etwas mehr als „paper work“. Und Scheitern war keine Option. Hätte ich zu sehr gedrängt, so sehr, wie es jemand tut, der tief in der Tech-Welt steckt, hätten wir unser Ziel nie erreicht. Aber wir haben unser Ziel erreicht. Die Richterin folgte dem von mir vorgeschlagenen rechtlichen Weg. Und ich werde niemals den Moment vergessen, als ich mit einer Kollegin vom BKA im Bundesfinanzministerium saß, um dort über Kryptowährungen zu referieren. Und diese Hammer-Nachricht auf meinem Display erschien. Wir waren durch das Nadelöhr hindurch gekommen.
Schließlich wurden die drei deutschen Administratoren von „Wall Street Market“ verhaftet und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Der Bundesgerichtshof hat das Urteil bestätigt.
Brücken bauen zwischen Welten
Führung bedeutet, Probleme zu antizipieren, die entstehen können, wenn eine Welt auf eine andere trifft. Je weiter zwei Welten voneinander entfernt sind – wie der ultradynamische Cyberraum und die eher schwerfällige Justiz – desto mehr muss Führung die Kluft zwischen ihnen im Auge behalten.
Das gilt auch für Unternehmen und öffentliche Institutionen. Überall braucht es Brückenbauerinnen wie mich. Damit exzellentes Fachwissen auf die Straße gebracht wird. Eine gute Führungskraft teilt den Geist des Projekts, betrachtet es aber aus sicherer Entfernung. So schwer mir das auch fällt, wenn ich die Begeisterung unserer Technikerinnen und Techniker erlebe.
Das Fachwissen dieser kompetenten Menschen befähigt mich, meinen Job zu machen. Ich kann sie dafür gar nicht genug wertschätzen. Aber ich muss zwei Welten miteinander verbinden. Und das ist ein anderer Job. Kein Job für eine Expertin.
Meine Karriere mag ungewöhnlich sein, aber sie beweist, dass die Fähigkeit, in verschiedenen Fachwelten zu wirken und sich in keiner von ihnen ganz niederzulassen, eine Führungsqualität an sich ist. Nicht nur bei der Bekämpfung der Cybercrime.
Jana Ringwald ist Oberstaatsanwältin bei der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main. Sie leitet dort das Team Cybercrime im engeren Sinne sowie die Zentralstelle zur Verwertung virtueller Währungen der hessischen Justiz und vertritt aktuell den Bund im European Judicial Cybercrime Network (EJCN) bei Eurojust in Den Haag.
In unserer Reihe „Perspektiven“ ordnen unsere Kolumnist:innen regelmäßig aktuelle Entwicklungen, Trends und Innovationen im Bereich Cybersicherheit ein. Von Jana Ringwald erschien zuletzt: Beschleunigung in der Lernkurve