Es gibt Momente, in denen die Geschichte sich so komfortabel anfühlt wie ein Auto, das bei Glatteis ins Schleudern gerät. Man denkt nicht mehr viel über den langen Weg in die Zukunft nach, sondern man muss konkret handeln, damit dieser Weg überhaupt möglich bleibt. Im schlingernden Auto muss man das Lenkrad gut festhalten, etwas gegenlenken und bremsen.
Beim Denken über Innovationen in der Krise ist die Sache noch etwas komplizierter: Wenn frühere Selbstverständlichkeiten zusammenbrechen, muss man bereit sein, sich selbst zu hinterfragen, Fehler zuzugeben und von anderen hinzuzulernen. Manchmal müssen auch überkommende Strukturen aufgelöst werden, die Entscheidungswege hemmen und der schnellen Umsetzung von Ideen im Weg stehen. Viel wichtiger ist aber noch, dass man schnell wieder in eine Position zurückfindet, in der man wirksam handeln kann. Je schneller das gelingt, desto mehr Vorsprung hat man vor den anderen, die ebenfalls ins Schleudern geraten sind. Entweder, man fängt an, die neue Zukunft zu gestalten, oder sie wird von anderen gestaltet werden. Klingt logisch, oder? Einfach ist es deswegen trotzdem noch lange nicht.
Wenn wir über das nötige Umdenken sprechen, dann betrifft das auch Prozesse, die über Jahre und Jahrzehnte in Unternehmen und Verwaltungen gestaltet wurden, um den damaligen Anforderungen zu genügen. Das fängt oben bei den Entscheidenden an, reicht aber hinunter bis zu den umsetzenden Sachbearbeitenden, die in dieser ganzen Zeit gelernt haben, dass sie vor allem mit solchen Vorschlägen erfolgreich sind, die im System möglichst wenig Kritik hervorrufen und so lange zurechtgeschmirgelt werden, bis sie diesem Anspruch auch entsprechen.
Alte Gewissheiten überwinden
Das ist die alte deutsche Laufzettel-Problematik, ein wohlbekanntes Kopfschmerzthema bei Innovatoren: Vorgesetzter A will, dass eine neue Anschaffung über Fähigkeit X verfügt. Vorgesetzter B möchte anschließend ausdrücklich, dass auch die Arbeitsplätze in Deutschland gesichert werden. Und schließlich wünscht sich Vorgesetzter C, dass Fähigkeit Y integriert wird – auch wenn dafür Fähigkeit X nur noch eingeschränkt zur Verfügung steht. Am Ende steht meistens ein fauler Kompromiss, der sich an Seitenargumenten orientiert und nur noch sehr bedingt eine Antwort auf die sich abzeichnenden Herausforderungen darstellt. Die Vision wird hinter der Synthese aus Teilinteressen unsichtbar.
Noch schwieriger ist es, alte Gewissheiten zu überwinden. Das erleben wir derzeit in Hinblick auf die Sicherheitslage in Europa. Drei Jahrzehnte lang hatte sich das Empfinden verfestigt, dass Sicherheit etwas Selbstverständliches ist. Diese Vorstellung schwindet nun. Wir sind durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gezwungen, zu handeln. Oder, wie es Bundeskanzler Olaf Scholz Ende Februar im Bundestag sagte: „Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“
Wir müssen nun Wirkung erzielen. Sehr bald sogar. Und das geht am besten, wenn wir durch das Wissen der Gegenwart und mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen derart handeln, dass wir unsere gemeinsamen Ziele erreichen. Auch hier sind die Dinge jedoch nicht so einfach, wie sie scheinen.
Inkrementelles Durchwurschteln verhindern
Stichwort: Gegenwartswissen. Wenn wir uns in Deutschland mit der Gestaltung von Zukunft beschäftigen, bewegen wir uns meist zwischen zwei Extremen: Einerseits das inkrementelle Durchwurschteln nach morgen und andererseits der zu weite – und deswegen oft täuschende – Blick nach übermorgen.
Das inkrementelle Durchwurschteln ist meist ein reines Reagieren auf stetig auftretende Herausforderungen. Der zu weite Blick in die Zukunft lässt uns glauben, dass wir die Herausforderungen der Zukunft kennen. Er nimmt uns aber die Wahrnehmung dafür, was uns bis dahin noch alles in die Quere kommen könnte.
Von Sokrates ist ein berühmter Satz überliefert: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ In leichter Abwandlung lässt sich das auch über unser Denken über die Zukunft sagen: Jeder sollte sich bewusst sein, dass man heute noch nichts Faktisches über die künftige Welt weiß. Die Zukunft ist nämlich immer das, was wir mit unseren gegenwärtigen Entscheidungen daraus machen.
Wenn wir also über Innovationen nachdenken, geht es darum, abschätzen zu können, welche Auswirkungen unsere Entscheidungen in künftigen Zeiten haben können. Das ist relativ einfach, wenn es um die Auswirkungen am nächsten Tag geht: Denn selbst in bewegten Zeiten ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Welt am nächsten Morgen noch nach ähnlichen Prinzipien funktionieren wird. Wir haben mit Blick auf den nächsten Tag eine Vorstellung davon, in welchem Handlungsrahmen wir uns dann bewegen werden: Natürlich ist es theoretisch möglich, dass morgen die Sonne nicht aufgehen wird. Es ist aber sehr unwahrscheinlich.
Kein Spekulieren über zu weite Zukunftsspannen
Anders sieht es aus, wenn es um Perspektiven in den kommenden zehn Jahren geht. Hier ist der mögliche Handlungsrahmen sehr breit und voller Ungewissheit. Denken wir an die technologische Entwicklung: Womöglich haben sich im Jahr 2032 andere Technologien durchgesetzt als jene, die wir heute favorisieren würden. Es ist ebenso denkbar, dass unvorhersehbare Ereignisse den Lauf der Weltgeschichte in zehn Jahren verändert haben werden. Oder dass neues Wissen die Art und Weise verändert, wie wir auf die Welt blicken. Womöglich stellen wir fest, dass wir ganz andere Herausforderungen meistern müssen als jene, die wir heute erkennen. Das Denken in zu weiten Zukunftsspannen ist immer ein Stück weit spekulativ.
Hören wir deshalb auf, Dinge zu planen, die ihn zehn Jahren niemand mehr brauchen wird. Das gilt gerade in Krisenzeiten. Lasst uns, die Probleme mit dem Geist eines Do-Tanks anpacken. Das heißt: Wir haben eine Vision von der Zukunft, handeln in der Gegenwart und tasten uns schrittweise in die Welt von morgen hinein. So kann es uns gelingen, unser Land zu modernisieren.
Sven Weizenegger ist Leiter des Cyber Innovation Hubs der Bundeswehr, eine Innovationseinheit der BWI.
In unserer Reihe „Perspektiven“ ordnen unsere Kolumnist:innen regelmäßig aktuelle Entwicklungen, Trends und Innovationen im Bereich Cybersicherheit ein. Zuvor von Sven Weizenegger im Background Cybersicherheit erschienen: Warum Innovation den „Sense of Urgency“ braucht