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Agrar & Ernährung

Standpunkte Das EU-Arbeitsprogramm ist gut, doch es braucht noch mehr Unternehmensgeist

Foto: Deutsches Tiefkühlinstitut

Die strategische Agenda der 27 EU-Staats- und Regierungschefs soll die EU besser für neue geopolitische Herausforderungen rüsten. Das Programm deckt viele wichtige Aspekte ab, meint Sabine Eichner, Geschäftsführerin des Deutschen Tiefkühlinstituts. Allerdings fehle ein langfristig realistisches Konzept des Green Deal, das Wohlstand und Nachhaltigkeit zusammenführt und damit die Lebensmittelwirtschaft durch Innovationen und weniger Bürokratie wettbewerbsfähig macht.

von Sabine Eichner

veröffentlicht am 12.07.2024

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Ende Juni haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union die strategische Agenda 2024 – 2029 angenommen. Darin sind die wichtigsten Ziele der Mitgliedstaaten für die kommende Legislaturperiode beschrieben, die voraussichtlich auch das Arbeitsprogramm der künftigen EU-Kommission bestimmen werden. Die Agenda soll dazu beitragen, die EU besser an die neue geopolitische Realität anzupassen.

Klar ist: Weniger Bürokratie und mehr unternehmerische Freiheit müssen das Motto für eine starke und dynamische EU sein, die die Bedürfnisse des Mittelstandes besser berücksichtigt. Vor diesem Hintergrund deckt die Agenda viele wichtige Aspekte ab. Insbesondere die Vorschläge für die Stärkung des Binnenmarktes, die Wettbewerbsfähigkeit, die Innovationskraft und den Bürokratieabbau sind begrüßenswert. Bereits vor der Europawahl 2024 haben wir gefordert, die Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Offensichtlich ist das Bemühen der Staats- und Regierungschefs, die Wirtschaftspolitik besser zu gestalten.

Es fehlen aber auch einige wichtige Aspekte. So braucht es etwa langfristig ein realistisches Konzept des Green Deal, das Wohlstand und Nachhaltigkeit zusammenführt, sowie weitere energiepolitische Maßnahmen. Der Green Deal sollte die Kräfte der Marktwirtschaft nutzen, um die Ziele der Nachhaltigkeit schneller zu erreichen. Anstelle von bürokratischen Lösungen braucht es Offenheit für Innovation. In diesem Sinne ist der Green Deal neu auszuhandeln. Um die Lebensmittelwirtschaft auch in Zukunft wirklich wettbewerbsfähig zu machen, bräuchte es folgende weitere Maßnahmen.

Wettbewerbsfähigkeit durch mehr Innovation und Forschung

Zunächst einmal müssen wir ein unternehmer:innenfreundlicheres Umfeld erreichen, das Innovation und Risikoübernahme unterstützt. Denn die Unternehmen, darunter inbesondere in der Tiefkühlindustrie auch viele kleine und mittlere Unternehmen (KMU), werden erhebliche Investitionen tätigen müssen – beispielsweise in neue Lebensmittel- und Kühltechnologien sowie innovative Verpackungslösungen, die effizient und umweltfreundlich sind. Dafür braucht es verlässliche Rahmenbedingungen, die Fortschritt fördern. Nur so werden die notwendigen privaten Investitionen stimuliert und nachhaltiges Wirtschaftswachstum gesichert. Dass die Agenda die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit und die Entwicklung von Innovationen im Rahmen des Green Deal hervorhebt, ist daher gut und richtig.

Auch spricht die Agenda die Notwendigkeit von Investitionen an, beispielsweise in der Infrastruktur. Der Fokus liegt auf E-Mobilität und erneuerbaren Kraftstoffen. Spezifische Maßnahmen, etwa zur Bekämpfung des Fahrer:innenmangels, fehlen jedoch. Um zur wirtschaftlichen Stabilität beizutragen, sollten sichere, zukunftsweisende Arbeitsplätze geschaffen sowie hohe Qualitätsstandards bei Lebensmitteln und Dienstleistungen gesichert werden. Vor diesem Hintergrund muss es mehr Forschungs- und Innovationskapazität geben.

Fairer Wettbewerb und harmonisierter Binnenmarkt

Ein fairer Wettbewerb und die Bekämpfung unfairer Handelspraktiken sind im Lebensmittelsektor unerlässlich, um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten. Die Regelungen zu unfairen Handelspraktiken (UTP) in der EU sollten daher überarbeitet werden. Wichtige Punkte sind zum Beispiel die Übertragung bestimmter Praktiken von der grauen auf die schwarze Liste, klare Definitionen und Fristen für Zahlungs- und Lieferbedingungen, das Verbot automatischer und unverhältnismäßiger Logistikstrafen sowie die Möglichkeit zur Nachverhandlung von Verträgen unter außergewöhnlichen Umständen.

Ein funktionierender EU-Binnenmarkt ist wichtig, um die Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit der Lebensmittelbranche zu erhöhen. Es braucht daher einheitliche Rahmenbedingungen – beispielsweise im Lebensmittelrecht und bei der Verbraucher:inneninformation.

Die Strategische Agenda spricht sich zwar richtigerweise für harmonisierte Regelungen und gegen nationale Alleingänge aus. Allerdings wird nicht explizit auf weniger nationale Regelungen im Bereich der Lebensmittelkennzeichnung eingegangen. Aktuell gibt es verschiedene Initiativen zur Lebensmittelkennzeichnung, etwa zur Nährwertkennzeichnung (Nutri Score) oder zum Tierwohl.

Zunächst wäre es aber wichtig, sich auf gemeinsame EU-Kennzeichnungsstandards zu verständigen und nationale Insellösungen zurückzudrängen. Es sollte auf bereits vorhandene Systeme zurückgegriffen und diese sollten Verbraucher:innen verständlich gemacht werden, bevor Überlegungen für mögliche weitere Kennzeichnungen angestellt werden, etwa in Hinblick auf ein neues Nachhaltigkeitssiegel.

Digitale Lösungen wie QR-Codes sind gute und unbürokratische Mittel, um Verbraucher:innen weitergehende Informationen bereitzustellen. Wichtig wäre auch, bei Regulierungsvorhaben wie etwa der Green Claims Verordnung, noch stärker wirtschaftliche Aspekte zu berücksichtigen und unbürokratische Lösungen anzustreben. Vor allem KMU und Start-ups haben oft unter hohen bürokratischen Hürden zu leiden.

Bürokratische und regulatorische Entlastung

Die Agenda betont zwar, dass bürokratische und regulatorische Belastungen reduziert und Verwaltungs- und Genehmigungsverfahren vereinfacht werden sollen, erwähnt jedoch nicht explizit die Anpassung von Regulierungen für KMU. Dringend geklärt werden muss vor diesem Hintergrund, wie die EU mit bereits verabschiedeten Gesetzesprojekten, etwa der Verordnung zu Entwaldungsfreien Lieferketten und dem Europäischen Lieferkettengesetz, umgehen wird.

Die gegenwärtige Ausgestaltung ist wenig unternehmensfreundlich. Sie überfordert gerade kleinere Lieferanten und gefährdet die Versorgung mit Rohstoffen, weil der Gesetzgeber nicht fristgerecht die notwendigen Voraussetzungen zur Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben geschaffen hat. Solche aufwändigen Dokumentationsprozesse müssen künftig frühzeitiger mit den Wirtschaftsbeteiligten abgestimmt werden. Nur so kann die Lebensmittelbranche den Anforderungen einer modernen und dynamischen Wirtschaft gerecht werden.

Klimaneutralität und Energieunion

Die Ambition der EU, den ersten klimaneutralen Kontinent zu schaffen, ist richtig und wichtig. Eine spezifische Überprüfung der Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit des Green Deal bleibt in der Agenda aber leider unerwähnt. Gerne möchte die Tiefkühlwirtschaft ihren Beitrag leisten, zum Beispiel durch innovative Kühltechnologien und effiziente Logistiksysteme zur Reduktion von CO2-Emissionen. Allerdings sind der Ausbau erneuerbarer Energien und die Sicherung der Energieversorgung auf europäischer Ebene Voraussetzung, dass die Branche ihre Klimaziele auch erreichen – und gleichzeitig bezahlbare Lebensmittel für alle bereitstellen kann.

Das Ziel, bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen, erfordert daher pragmatische Ansätze und weitere erhebliche Investitionen in grüne und digitale Technologien. Stabile und bezahlbare Energiequellen sind essenziell, etwa um Kühlketten aufrechtzuerhalten und die Qualität der Produkte zu sichern. Zwar betont die Agenda die Notwendigkeit einer Energieunion, die Nutzung erneuerbarer Energien und Investitionen in Netze und Speicher – nicht jedoch spezifische Maßnahmen zur Reduzierung der Energiepreise.

Kreislaufwirtschaft und Ressourceneffizienz

Auch die Entwicklung einer stärker kreislauffähigen und ressourceneffizienten Wirtschaft wäre von Vorteil. Durch saubere Technologien und die vollständige Nutzung der Bioökonomie werden Prozesse nachhaltiger und wettbewerbsfähiger. Allerdings müsste die Agenda nachsteuern in Bezug auf eine Reduzierung der Lebensmittelverschwendung sowie freiwillige Vereinbarungen im Industriesektor. Auch sollen zwar nachhaltige landwirtschaftliche Praktiken unterstützt werden, jedoch ohne zu benennen, wie eine direkte Stärkung der Landwirtschaft im Kontext der Lebensmittelverarbeitung aussehen könnte.

Mit Blick auf den weiteren politischen Prozess, die neuen Generaldirektionen und Parlamentsausschüsse, sollten die Verantwortlichenden den Neubeginn selbstbewusst und mutig als Chance annehmen. Wünschenswert wäre, wenn vor allem der Dialog mit der Wirtschaft gestärkt würde, damit Gesetzesinitiativen bereits im Vorfeld auf ihre Praktikabilität abgeklopft werden können. Es wird nun darauf ankommen, dass sich die Umsetzung der Agenda an ihrem Anspruch messen lassen kann.

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