Trotz zahlreicher Kampagnen, Gutachten und Gesetzentwürfe besteht mehr als drei Jahre nach dem aufsehenerregenden Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) noch immer keine Klarheit über die zukünftigen Rahmenbedingungen der Arzneimittelversorgung. Braucht es also ein weiteres Gutachten, wie vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegeben? Fundierte Fakten zum Apothekenmarkt und zu den möglichen Auswirkungen einer Freigabe der Preise sind zwar hilfreich, da hier erheblicher Nachholbedarf besteht und dies nicht zuletzt auch einer der Kritikpunkte in der Urteilsbegründung des EuGH war.
Aber nach den jahrelangen Diskussionen braucht es endlich eine Entscheidung der Politik, wie es nun weitergehen soll – und damit Klarheit für alle Beteiligten. Da sind an erster Stelle die Apotheker, egal ob Vor-Ort oder Versandapotheke, die Planungssicherheit brauchen. Und da sind natürlich die Verbraucherinnen und Verbraucher, die auf eine flächendeckende qualitätsgesicherte Arzneimittelversorgung angewiesen sind.
Der Markt darf den Preis nicht bestimmen
Das vom Ministerium in Auftrag gegebene Gutachten soll sich mit den Auswirkungen der teilweisen oder vollständigen Aufgabe der Preisbindung für verschreibungspflichtige Arzneimittel befassen. Es darf keine Frage sein, dass vorrangig die Auswirkungen auf Patienten und ihre Versorgung zu beachten sind, die keinesfalls eine homogene Gruppe bilden. Einfluss haben etwa Wohnort, Gesundheitszustand und Alter. Der Markt darf den Abgabepreis eines Arzneimittels in der Apotheke nicht bestimmen. Nachsehen hätte dann beispielsweise schnell eine ältere, nicht mobile Patientin, die in einer ländlichen Region akut ein Arzneimittel benötigt und nur eine Anlaufstation vor Ort hat.
Das heißt aber nicht, alles ist gut und muss bleiben wie es ist. Der EuGH hat entschieden, dass die in Deutschland gültige gesetzliche Festlegung eines einheitlichen Apothekenabgabepreises für verschreibungspflichtige Arzneimittel eine nicht gerechtfertigte Beschränkung des freien Warenverkehrs in der Europäischen Union darstellt und damit gegen Unionsrecht verstößt. Mit den Folgen gilt es umzugehen: So gilt das deutsche Arzneimittelpreisrecht auf Grund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts für Versandapotheken mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht, während die in Deutschland ansässigen Apotheken an die für sie weiterhin geltenden Vorschriften und damit an den einheitlichen Apothekenabgabepreis gebunden sind und keine Boni gewähren können.
Dabei dürfen die weiteren Rahmenbedingungen nicht außer Acht gelassen werden: Zuzahlungen bei Arzneimitteln stellen beispielsweise primär eine Selbstbeteiligung für Patienten dar und tragen nicht zur „Patientensteuerung“ bei. Ihre Abschaffung sollte daher geprüft werden. Dafür spricht, dass die finanzielle Belastung von Patienten im Krankheitsfall verringert und der Anreiz für eine Bestellung aufgrund einer erwarteten Verringerung der anfallenden Zuzahlung bei ausländischen Versandapotheken deutlich gemindert würde. Die komplexen Erstattungs- und Zuzahlungsregelungen sollten daher als Erstes einer Überprüfung unterzogen werden.
Eine realistische Einschätzung ist auch mit Blick auf die immer wieder vorgebrachten Befürchtungen hinsichtlich eines forcierten Rabattwettbewerbs bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln durch ausländische Versandapotheken sowie ihren zukünftig möglichen Marktanteil nötig. Internationale Erfahrungen zeigen, dass ihr Marktanteil begrenzt bleibt. Aber es besteht grundsätzlich die Möglichkeit auch deutschen Apotheken begrenzte Preisspielräume einzuräumen, um eine Benachteiligung gegenüber ausländischen Versendern zu vermeiden. Diese Option sollte nicht komplett ausgeschlossen werden. Wird ein maßvoller Wettbewerbsfaktor geschaffen, sollten Patienten hiervon aber auch direkt profitieren. An einem Punkt darf jedoch unabhängig von den zukünftigen Weichenstellungen nicht gerüttelt werden: der freien Apothekenwahl!
Versorgungsleistungen der Apotheken stärken
Aus Verbrauchersicht muss die sichere und flächendeckende Patientenversorgung im Mittelpunkt stehen. Auch wenn ein Versandhandelsverbot für verschreibungspflichtige Arzneimittel nicht mehr zeitgemäß ist, sollte es bei einer Diskussion über die Zukunft der Apothekenversorgung keinesfalls nur um mögliche, kurzfristig zu erzielende Boni für Verbraucher gehen, sondern um eine tragfähige Lösung, die alle Angebote der (digitalen) Gesundheitsversorgung einbezieht. Hierfür muss auch die aktuelle Apothekerhonorierung überprüft werden und dabei zudem die qualifizierten Leistungen der Apotheker in der Patientenversorgung gestärkt werden. Ihre wichtigste Aufgabe ist nicht die Packungsabgabe, sondern die Vermittlung ihres pharmakologischen Fachwissens.
Es braucht eine zeitnahe Entscheidung. Das kann sogar bedeuten, dass es beim Status quo bleibt. In diesem Fall muss aber zwingend zumindest die Entwicklung der wohnortnahen Versorgung in der Fläche – insbesondere in strukturschwachen beziehungsweise ländlichen Regionen – fortlaufend wissenschaftlich evaluiert und nachgesteuert werden, sofern sich gravierende Versorgungsprobleme abzeichnen. Orientierung könnten hier etwa die Regelungen im Zusammenhang mit dem Nacht- und Notdienst bieten. Zum jetzigen Zeitpunkt muss aber gespannt darauf gewartet werden, wie sich die EU-Kommission zum vorliegenden Entwurf des „Apothekenstärkungsgesetz“ positionieren wird. Danach lässt sich hoffentlich mehr zur Zukunft der Apotheke im deutschen Gesundheitswesen sagen.
Kai Vogel ist seit 2014 Leiter des Teams Gesundheit und Pflege des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv), Berlin. Zuvor war er Leiter des landesweiten Büros des Beauftragten der Landesregierung Nordrhein-Westfalen für Patientinnen und Patienten sowie Projektleiter bei der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen.