Der Gedanke ist reizvoll: eine Therapie, individuell zugeschnitten auf den einzelnen Patienten, frühzeitig diagnostiziert durch gezielt eingesetzte Marker und für die so unterscheidbaren Subpopulationen speziell aufbereitete Therapeutika? Und das alles ohne Zeitverzug, verglichen und hergeleitet aus der Analyse von Hunderttausenden, ja Millionen vergleichbaren diagnostischen und therapeutischen Informationen?
Die Medizin ist auf diesem Weg, noch als Suchende, aber immer öfter auch mit beeindruckenden Ergebnissen. Dieser Weg ist keinesfalls neu, er ist das Grundprinzip des differenzialdiagnostischen Fortschritts. Er ist die Fortsetzung des alten gültigen und weitergeltenden Paradigmas der Medizin mit anderen modernen Mitteln.
Alt, weil seit jeher jeder Arzt, mit welchen gerade verfügbaren Instrumenten auch immer, seinen individuellen Patienten und dessen Krankheit immer besser verstehen und so gezielt wie möglich therapieren will. Das ist das zentrale ethische Paradigma der Medizin und des ärztlichen Berufsbildes. Personalisierte Medizin war schon immer das Wesen guter Medizin und gutem ärztlichen Handeln.
Datenkraken treiben Systeme vor sich her
Neu sind die verfügbaren Instrumente: Die Digitalisierung der Prozesse generiert Millionen von Datensätzen, die Rechenkapazitäten und -geschwindigkeiten sind keine limitierenden Faktoren mehr, sie machen Analysen möglich und können diese „Raum und Zeit“ überwindend online im Behandlungsprozess verfügbar machen. Medizinisch seriös entwickelte Algorithmen können zunächst die Routine, in Zukunft vielleicht auch bei komplexeren Prozessen durch eine Vorbefundung wichtige therapieunterstützende und arztentlastende Funktionen übernehmen.
Es ist nur zu verständlich, dass in einem solchen Szenario die Fantasie der Beteiligten blüht. Investoren, Start-Ups, ambitionierte Wissenschaftler wollen teilhaben an diesem faszinierenden Weg. Gigantische Summen werden weltweit in entsprechende Entwicklungen investiert. Die großen, international marktbeherrschenden Datenkraken der Plattformökonomie (Google, Facebook, etc.) treiben die Akteure der verfassten Gesundheitssysteme in Wissenschaft und Versorgungspraxis vor sich her. Daten sind das Gold der digitalen Welt.
Das birgt Gefahren: Der Ruf nach Evidenz, der Nachweis der Wirksamkeit und medizinisch seriöser Analyse und Befundung, der Nachweis einer positiven Nutzen-/Schadenrelation mag bisweilen schon als eine Art „Spielverderber“ erscheinen. Und doch: ohne Evidenz, belegt in guten Studien, das heißt der Isolierung möglichst gut definierter Wirkhebel, werden auch stabile Korrelationen aus hunderttausenden Datensätzen nicht zwingend die notwendige Kausalität belegen. Aber vielleicht werden neben diesen spannenden Zusammenhängen aus den gefundenen Korrelationen nicht nur neue gute und erkenntnisverbessernde Studien generiert, vielleicht wird auch die Ökonomie der Studien dadurch erheblich unterstützt.
Wissen sammeln, kritisch reflektieren
Was ist also zu tun? Wir brauchen eine Kultur, die dem Neuem gegenüber aufgeschlossen ist, ihm aber nicht bedingungslos folgt. Wir brauchen eine Kultur der wissensbasierten (evidenzbasierten) Versorgung, die selbst neues Wissen generiert und verfügbar macht, eine Kultur, die Erfahrungen sammelt, diese kritisch reflektiert, Chancen und Limitationen transparent macht und dieses Wissen offen teilt und einen produktiven Diskurs ermöglicht.
Zu einer solchen Kultur gehört der sensible Umgang mit den persönlichen Daten der Patienten. Es rivalisieren weltweit mindestens drei grundsätzlich divergierende Wertesysteme bezüglich der Verfügungsrechte persönlicher Daten: die kommerzielle Nutzung durch private Organisationen in der US-amerikanischen kapitalistischen Kultur, die staatliche Verfügungsmacht in autoritären Staaten, abgemildert auch als gesellschaftliche auf Vertrauen gründende Verfügungsmacht in einigen nordischen Staaten und dem Konzept der personalen Selbstbestimmung des Einzelnen, wie sie unserer Verfassungsordnung zugrunde liegt.
Nach unserem gesellschaftspolitischen Verständnis gehören diese Daten ausschließlich der Person. Nicht der Gesellschaft und ihren Institutionen und eben nicht dem Staat. Sie, die Person allein, entscheidet über ihre Verwendung. Das limitiert einige sinnhafte Optionen. Damit muss man umgehen. Die Corona-Warn-App mag als Beispiel genügen. Deshalb kann man für sinnhafte Datenanalyse und entsprechende Datenbereitstellung werben, vielleicht auch überragende Gründe nennen: aber zwingen kann man niemanden. Umso mehr brauchen wir einen breiten Diskurs darüber, wer, welche personenbezogenen Informationen für welche Zwecke braucht, wo pseudonymisierte Informationen genügen und wo schon anonyme Informationen Zusammenhänge erschließen. Diese Sicherheits- und Transparenzkultur führt erst zur gesellschaftlichen Akzeptanz.
Die noch kurze Geschichte der Big Data Analytik zeigt enorme Fortschritte und Chancen für Prädiktion, Diagnostik und Therapie, sie zeigt aber auch Gefahren, Manipulationspotential und Limitationen. Es zeugt von stabilem Selbstbewusstsein der Medizin und schafft wohl auch neues Vertrauen, wenn es gelingt damit, offen umzugehen.
Weder wird dadurch „der Krebs besiegt“, noch werden die Daten zwangsläufig missbraucht. Entmystifizierung und Entskandalisierung ist das Ziel und das Gebot, das durch eine so gelebte Kultur der „wissensgenerierenden Versorgung“ angestrebt und erreicht werden kann.
Ein so entwickelter analytische Umgang mit Chancen und Grenzen ist notwendig, beides bedarf des wissenschaftlich korrekten Nachweises. Gerade weil die Digitalisierung, Big Data und die Entwicklung von Algorithmen bei der Analyse und der vorläufigen arztunterstützenden Befundung große Chancen eröffnen und Potentiale bieten, ist das Zeitalter der Evidenz noch lange nicht vorbei. Im Gegenteil: wir stehen vielleicht gerade erst am Anfang. Die bisher entwickelten und gepflegten Werte bieten geeignete Leitplanken für die Entwicklung.
Neue Instrumente, alte Werte: ein schönes Programm für das Ziel einer „wissensbasierten und wissensgenerierenden Versorgung“ individueller Patienten. Lassen wir uns auf diese faszinierende Reise entführen, nichts anderes ist unter Präzisionsmedizin zu verstehen.
Professor Herbert Rebscher leitet das Institut IGVResearch für Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung, von 2004 bis 2016 war er Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit. Im medhochzwei-Verlag erschien gerade der dritte Band von „Digitalisierungsprozesse, Prozessdigitalisierung“ der Schriftenreihe „Gesundheitsökonomie für die Versorgungspraxis – Gesundheit und Pflege“, die von Rebscher, Prof. Jasmina Stoebel und Prof. Jürgen Zerth herausgegeben wird.