Nur wenige Customer Journeys sind so digitalisiert wie die der Reisebranche und werden ständig den Bedürfnissen der Nutzer:innen angepasst. Die hausärztliche Versorgung kann viel von den positiven Nutzererfahrungen übernehmen, um diese Pfade zu digitalisieren, zu vereinfachen und dabei trotzdem ihre hohen qualitativen Standards zu erfüllen.
Wagen wir ein kleines Gedankenspiel: Draußen ist es kalt und grau und Sie sehnen sich nach einem Tapetenwechsel. Was also tun? Sie nehmen Ihr Smartphone zur Hand und scrollen durch Bilder von tropischen Reiseorten, die Wärme und Abwechslung versprechen. Anschließend suchen Sie nach den schnellsten Flugrouten und Hotels, bei denen das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt. Mittlerweile buchen die meisten Deutschen ihre Reisen auf diese Weise, weshalb sich verschiedene Anbieter entsprechend ihres Nutzerverhaltens angepasst und modernisiert haben oder gänzlich neue digitale Modelle im Markt erschienen sind.
Der fatale Unterschied bei der medizinischen Versorgung: Patient:innen werden vom Gesundheitssystem dazu gedrängt, in eine überlaufene Arztpraxis zu gehen und dort stundenlang auf die Konsultation zu warten, bis sie mit Diagnose und Rezept entweder zur Apotheke oder an einen Facharzt überwiesen werden. 62 Prozent der Internetnutzer:innen googlen ihre Symptome, recherchieren nach neuen Behandlungswegen oder möglichen Diagnosen. Mit einer qualitativen medizinischen Versorgung hat dies leider nichts zu tun. Oftmals erfordert bereits die Terminfindung unzählige Anrufe. Dabei möchten Patient:innen ihre medizinische Versorgung ähnlich einfach planen wie eine Reise.
Nicht nur die Patient:innen sehnen sich nach einem einfacheren Zugang zur medizinischen Versorgung. Auch viele Ärzt:innen wünschen sich ein zeitgemäßes Arbeitsumfeld, in dem die Digitalisierung hilft, sich auf die Behandlung ihrer Patient:innen zu konzentrieren und das eigene Arbeitsmodell zu flexibilisieren.
Digitaler Reisemarkt mit Vorbildfunktion
Natürlich sind die Anforderungen im Gesundheitsmarkt andere als in der Reisebranche. Die falsch gebuchte Reise führt zu Frust und Geldverlust, die falsche Diagnose eventuell zu lebensbedrohlichen Folgen. Zudem sind Daten über Erkrankungen deutlich sensibler als Informationen über das nächste Reiseziel. Dennoch sollten wir uns ansehen, wie die Reisebranche ihre Customer Journey verändert hat – um zu analysieren, wie wir die Patient Journey in der medizinischen Versorgung verbessern können.
Die Gesetzgebung versucht, mit den kürzlich veröffentlichten, sehr konkreten Maßnahmen des Gesundheitsministers, die versäumte Digitalisierung anzukurbeln. Hierzu zählt etwa die Etablierung von digitalen Gesundheits- und Pflegeanwendungen (DiGA und DiPA) als feste Bestandteile von Versorgungsprozessen. In diesem Zusammenhang wird immer wieder davor gewarnt, dass die Medizin schleichend komplett digitalisiert wird und der Arzt-Patienten-Kontakt verloren geht. Dabei zeigt die Reisebranche, wie beides sich bestens ergänzen kann.
In der Reisebranche wurden bereits viele Schritte der Customer Journey digitalisiert, ohne das Reiseerlebnis zu verschlechtern. Physische Voucher wurden praktisch komplett durch digitale Reisedokumente ersetzt. Selbst bei einer Buchung über ein klassisches Reisebüro ist ein physischer Besuch dort de facto nicht mehr nötig, denn oftmals wird bereits WhatsApp-Kommunikation angeboten und personalisierte Angebote per E-Mail versendet. Der Kunde kann sich so den Weg und die Zeit sparen, und bestimmt selbst den präferierten Kommunikationskanal – persönlich oder digital. Wer wünscht sich dies nicht auch als Patient für die Kommunikation mit Ärzt:innen?
Die Reisebranche ist so wie die Gesundheitsbranche ein Markt mit vielen verschiedenen Teilnehmern. Zwischen Reisebüros, Reiseveranstalter, Airlines und Hotels bestehen digitalisierte und automatisierte Kommunikationswege, damit alle die notwendigen Informationen haben, um eine konsistente „Customer Journey“ sicherzustellen. Über zentrale Systeme können Reisebüros und Kunden anbieterübergreifend Verfügbarkeiten und Preise transparent einsehen und abfragen. Im Gesundheitssystem benötigen wir dringend einen reibungslosen Informationsaustausch zwischen den Akteuren, um eine gute Versorgungsqualität sicherzustellen. Die DiPA kann dafür nur ein erster Schritt sein.
Es gibt auch Digitalisierungstrends, die sich im Gesundheitsbereich noch stärker auswirken werden als in der Reisebranche, wie künstliche Intelligenz (KI). Natürlich gibt es auch in der Reisebranche zahlreiche Anwendungsfälle für KI – für Kundenservice und Chatbots oder Preisprognosen. Im Gesundheitsbereich kann man durch KI-basierte Anwendungen nicht nur die Kundeninteraktion und administrative Prozesse automatisieren, sondern vor allem eine deutlich bessere Versorgungsqualität ermöglichen. Durch exaktere und schnellere Diagnosen sowie Risikovorhersagen können Leben gerettet werden, zum Beispiel in der Dermatologie, der Radiologie oder auch bei Blutanalysen. Die KI wird Einzug in die Gesundheitsversorgung erhalten, schätzungsweise in Kombination aus einem menschlichen Arzt und KI-Anwendungen.
Die Digitalisierung wird die Medizin transformieren: Wie auch bei der digitalen Hotelbuchung, ermöglicht die Online-Vergabe von Arztterminen Patient:innen mehr Selbständigkeit, die Termine passender in ihren Alltag zu integrieren. Für sie entfallen zudem die langen Wartezeiten am Telefon. Die medizinischen Fachangestellten werden beim stressigen Telefondienst entlastet. Und für die Ärzt:innen wird der Praxisalltag planbarer und optimaler genutzt – insbesondere, wenn sie zusätzlich zu fixen Terminen auch flexiblere Telemedizinmodelle wie digitale Warteräume nutzen. Denn die kurzfristige Absage von Terminen oder das Nicht-Erscheinen in der Praxis kostet Arztpraxen bares Geld.
Die Zukunft ist hybrid
Das alles zeigt: Wir reden vor allem über die Digitalisierung des Gesundheitswesens, die wahre Herausforderung ist aber das Zusammenspiel digitaler und physischer Prozesse. Ein digitaler Symptomchecker und Gesundheitsdaten einer intelligenten Uhr machen erst dann wirklich Sinn, wenn die Patient:innen im Falle eines Krankheitsverdachts direkt mit einem Arzt oder einer Ärztin sprechen können und diese im Idealfall die Daten zur Verfügung haben. Ebenso wie eine DiPA ihre volle Wirkung erst dann entfaltet, wenn sie den Patient:innen dabei hilft, ihre gesundheitliche Situation besser zu verstehen. So kann zwischen allen Beteiligten mehr Transparenz im Diagnose- und Behandlungsprozess geschaffen werden.
Der Weg dorthin wird länger dauern als in der Reisebranche. Schließlich bewegen wir uns in einem – zu Recht – stärker regulierten Markt. Aber der Wandel wird kommen, da Patient:innen eine digitale Journey bereits aus anderen Bereichen ihres Lebens gewohnt sind und gelernt haben, sich aktiv mit ihrer eigenen Gesundheit auseinanderzusetzen.
Dr. Dirk Tietz ist promovierter Wirtschaftsingenieur und seit über zehn Jahren in der Digitalbranche tätig. Vor seiner Tätigkeit für Doktor.De, einem Anbieter für digitale und physische Gesundheitsversorgung, arbeitete er unter anderem als Chief Digital Officer für DER Tourisik und als CEO der TUI.com GmbH.