Seit Jahren wird am bestehenden Regelwerk für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) nur noch geflickschustert, statt für die veränderten Versorgungsbedarfe der Bürger, Versicherten und Patienten und veränderten demographischen Bedingungen ein angemessenes Konzept mit einem angepassten Ordnungsrahmen zu entwickeln. Um in einem neuen SGB V den Perspektivwechsel von Beginn an deutlich zu machen, sollte die Fortentwicklung bewährter Rechtstraditionen schon in den Eingangsbestimmungen beinhaltet sein: Statt einer Auflistung allgemeiner Strukturprinzipien, Leistungen und Organisationen ist es an der Zeit, die unterschiedlichen Anliegen der Nutzer des Gesundheitssystems als Bürger, Versicherte und Patienten herauszustellen und deren Rechte, Aufgaben und Pflichten zu beschreiben. So sollte das SGB V Bestimmungen zu Information, Transparenz und Selbstbestimmung, Qualität, Sicherheit und Schutz, Gesundheitsinformation und Gesundheitskompetenz, individuellen und kollektiven Wahl- und Beteiligungsformen sowie Unterstützungsangeboten (etwa bei der Regulierung von Schäden) enthalten.
Damit das Bekenntnis trägt und Versicherte und Patienten verstehen, auf welche Leistungen sie einen Rechtsanspruch haben, ist das in der GKV verankerte Leistungsrecht grundlegend zu überarbeiten. Lücken im Leistungskatalog sind dabei zu vermeiden und gleichzeitig endlich die GKV-Leistungen mit sozialen Leistungen zu verknüpfen. In diesem Sinne ist es auch an der Zeit, die grundsätzliche Trennung von Kranken- und Pflegeversicherung zu hinterfragen. Eine Wiedervereinigung beider Versorgungssysteme hätte aber nicht nur Konsequenzen für die Beschreibung der Leistungsansprüche, sondern wirft grundlegende Fragen der Finanzierung, einschließlich der Frage der Eigenanteile, der Beziehungen zwischen Krankenversicherung und Leistungserbringen, der Organisation und der Qualitätssicherung auf. Egal, wie man all diese Fragestellungen regelt, es sollte grundsätzlich gelten: Satt Überregulierung in Detailfragen sollte der Gesetzgeber selbst nur die Grundlagen der Leistungen beschreiben und die Detaillierung einschließlich der regelmäßigen und zügigen Anpassung an die medizinische und soziale Entwicklung endlich wieder der (Gemeinsamen) Selbstverwaltung überlassen.
Vorfahrt für Vernetzung und Integration
30 Jahre ist es her, dass die friedliche Revolution im Osten unter dem Slogan „Die Mauer muss weg!“ erfolgreich verlief. Dieser Slogan muss auch im Gesundheitswesen umgesetzt werden. Nieder mit den Mauern, Hürden und Barrieren zwischen den Versorgungssektoren, Professionen und Institutionen. Stattdessen Vorrang für Vernetzung, Kooperation, Koordination und Integration. Dazu muss das Verhältnis von Regelversorgung und Integrierter Versorgung – jetzt rechtstechnisch eine besondere Versorgungsform – vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Die vernetzte und die integrierte Versorgung müssen die Regelversorgung bilden und durch eine übergreifende Steuerung von Kapazitäten, Vergütungsformen und Qualitätsanforderungen endlich die jeweilige Binnenlogik der einzelnen Versorgungsbereiche zurückdrängen. Das bedeutet, dass eine gemeinsame Bedarfsplanung für die einzelnen Sektoren konkrete und verbindliche Vorgaben für die Kapazitätssteuerung in den einzelnen Bereichen machen sollte.
Eine gemeinsame Vergütungsordnung sollte gesundheitliche Leistungen unabhängig davon honorieren, ob diese ambulant oder stationär erbracht werden. Schließlich sollte es einheitliche Qualitätsstandards für Patientenpfade geben. Dies ist gerade dann erforderlich, wenn verschiedene Personen und Institutionen zum Wohl des Patienten zusammenwirken. Auf-, Ab- und Umbau von Kapazitäten müssen Hand in Hand gehen und dürfen nicht länger lokalen oder professionellen Egoismen und externen Faktoren wie dem Fachkräftemangel überlassen werden. Dabei spielen die Herstellung von Transparenz und die Beteiligung der Betroffenen eine herausragende Rolle für die Akzeptanz in der Bevölkerung. Die Finanzierungs- und Honorierungssysteme müssen so ausgestaltet sein, dass sie Anreize geben, die ressourcenschonendste und qualitativ beste sowie sicherste Behandlungsform zu wählen und keine Wettbewerbsverzerrungen bewirken.
Vorrang für die Digitalisierung
Das deutsche Gesundheitswesen zieht seine Stärken aus der Balance zwischen einem freiheitlichen, pluralen Wahl- und Wettbewerbssystem sowie einem solidarischen Ordnungssystem mit Vorrang für die Selbstverwaltung. Diese Balance ist von zwei Seiten bedroht. Zum einen mischt sich die unmittelbare Staatsverwaltung zu oft in Selbstverwaltungsangelegenheiten ein und untergräbt damit deren Legitimation. Zum anderen entartet der Preiswettbewerb in eine Konkurrenz um Gesunde mit der Folge von Monopolen und Oligopolen sowie Konzentration und Zentralisierung. Zugleich erodieren die Governance-Strukturen in den Krankenkassen oder bei den Leistungserbringern. Dem muss der Gesetzgeber entgegentreten, indem er die Governance stärkt und einen fairen Wettbewerb schafft.
Das Gesundheitswesen steht im Zentrum medizinischer, gesellschaftlicher und technischer Innovationen. Die Nutzung der Potenziale vieler Innovationen scheitert an Komplexität und Geschwindigkeit der tradierten Verfahren zur Zulassung, Einordnung und Erstattung von Innovationen. Folglich müssen Aufgabenzuweisungen und Verfahren des Innovationsmanagements überdacht werden, ohne grundsätzliche Ziele des Gesundheitswesens in Frage zu stellen und ohne Kriterien für die Gewährleistung von Transparenz, Patientensicherheit, Qualität, Evidenz und Effizienz zu verwässern. Die digitale Transformation ist zwar primär ein durch Technologie getriebener kultureller Veränderungsprozess, bedarf aber zur Ausschöpfung ihrer Potenziale und zur Minimierung von Unsicherheiten, Risiken und Gefahren der rechtlichen Flankierung. Deshalb sollte auch hier der Vorrang des Digitalen vor dem Analogen im SGB V verankert und von speziellen Regulierungsvorschriften begleitet werden.