Die Debatte über den Mehrwert digitaler Anwendungen im Gesundheitswesen ist nicht neu. Die aktuelle Corona-Krise verdeutlicht jedoch eindrücklich, warum wir innovative Lösungen brauchen, um die hohe Belastung im Gesundheitswesen zu lindern: Diese resultiert aus dem Fachkräftemangel und manifestiert sich in regionalen Unterschieden in der Behandlungsqualität, aber auch einer fehlenden Verknüpfung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse mit der gängigen Behandlungspraxis. Ärzte und Pfleger arbeiten vielerorts unter Hochdruck. Damit einher geht auch die Sorge, Fehler zu machen.
Digitale Gesundheitsangebote können einen wichtigen Beitrag leisten, Ärzte und Pfleger in ihrem Arbeitsalltag zu entlasten. Auch wenn es zahlreiche vielversprechende Ansätze gibt, erzeugen überkomplexe und unzureichend integrierte digitale Anwendungen häufig aber eher zusätzliche Arbeit, als dass sie Diagnose und Behandlung erleichtern.
Damit das Gesundheitswesen von digitalen Lösungen profitieren kann, müssen also einige Voraussetzungen erfüllt und Herausforderungen überwunden werden. Vor allem gilt es, die Lücke zwischen aktuellen Forschungserkenntnissen und klinischer Praxis zu schließen und aktuelles Wissen früher im medizinischen Alltag nutzbar zu machen.
Datenexplosion im Gesundheitswesen, Aufbereitung dauert
Das ist leichter gesagt als getan: Das Datenvolumen im Gesundheitswesen ist in den letzten Jahren explodiert. 2013 war das dem Gesundheitswesen zuzuordnende Datenvolumen 153 Exabytes groß. Im Jahre 2020 werden es schon 2.314 Exabytes sein.Um diese enormen Datenmenge zu veranschaulichen: Ein Exabyte entspricht einer Milliarde Gigabyte – eine Datenmenge also, wie sie auf 250 Millionen DVDs Platz findet. Das birgt zwar großes Potenzial, bietet aber keinen Mehrwert für Krankenhäuser oder Patienten, wenn es nicht vorher aufbereitet, strukturiert und nutzbar gemacht wird. Gerade dieser Prozess dauert momentan aber noch zu lange.
Hinzu kommt, dass die medizinische Praxis wissenschaftlichen Erkenntnissen stellenweise um rund zwanzig Jahre hinterher hinkt. Dies führt auch zu großen regionalen Unterschieden in der Art und Qualität der medizinischen Behandlung. In einigen Regionen Deutschlands werden etwa die Prostata, die Mandeln oder der Blinddarm achtmal häufiger entfernt als in anderen. Gerade jetzt, wo es darauf ankommt, ist es fatal, wenn es keine etablierten Prozesse und Instrumente gibt, die sicherstellen, dass neues Wissen schnell und einheitlich in der Praxis eingesetzt wird.
IT-Systeme können Krankenhäuser dabei helfen, das richtige Wissen zur richtigen Zeit und an der richtigen Stelle bereitzustellen. Dazu müssen sie aber so aufgebaut sein, dass sie nicht selbst zum zusätzlichen Stressfaktor werden. Das ist leider nicht immer der Fall. Eine Erhebung der Mayo Clinic aus dem Jahr 2016 kommt sogar zu dem Schluss, dass die Neueinführung der elektronischen Patientenakte ein Hauptgrund für Burn-Out bei Ärzten ist.
Digitale Unterstützung: Clinical Decision Support
Einen Lösungsweg bieten sogenannte Clinical Decision Support Systeme, die evidenzbasiertes Wissen so aufbereiten, dass es im hektischen Klinikalltag nicht untergeht oder gar für Mehrarbeit sorgt. Im Idealfall geschieht dies als „Push-Information“, die Nutzern zielgerichtet und automatisch zugespielt wird. Diese digitalen Entscheidungshilfen bieten zahlreiche Vorteile: Sie helfen Ärzten dabei, die richtigen Untersuchungen und Therapien anzuordnen, vermeiden unerwünschte Abweichungen in der medizinischen Praxis, reduzieren Behandlungsfehler und können nicht zuletzt dazu beitragen, die Kosten im Klinikalltag zu senken.
Eine Variante von Clinical Decision Support, die schon heute in Krankenhäusern eingesetzt wird, sind „Order Sets“. Es handelt sich dabei um eine Art elektronische Checkliste, integriert in die elektronische Patientenakte, die diagnosespezifische Medikamentenverordnungen, Pflegeanordnungen und Leistungsanforderungen vereint. Order Sets stellen sicher, dass kritische Schritte während des Behandlungsprozesses nicht übersehen werden und dass nichts zu spät oder umsonst angeordnet wird. Zugleich bieten sie Ärzten aber genug Flexibilität, um auf individuelle Patientensituationen einzugehen. Order Sets sind ein Beispiel dafür, wie Clinical Decision Support schon heute das Qualitätsmanagement in der Klinik unterstützen können, indem sie die Einhaltung von evidenzbasierten Leitlinien und Qualitätsindikatoren erleichtern und unerwünschte Variabilität reduzieren.
Zwei Pilotprojekte zu Order Sets, die Elsevier an den Universitätsklinika Frankfurt am Main und Linz durchgeführt hat, zeigen, dass ihr Einsatz Ärzten zusätzliche Sicherheit bieten konnte. Gerade junge Ärzte, die zum ersten Mal mit bestimmten Krankheitsbildern konfrontiert sind, können solche IT-Systeme einen großen Mehrwert bieten.
Was ist zu tun?
Die aktuelle Situation kann als Anstoß dienen, künftig mehr in neue Prozesse und Anwendungen zu investieren, die Ärzten und Pflegern das Leben erleichtern können. Digitale Anwendungen wie Clinical Decision Support Systeme sind ein Teil der Lösung. Ihr größter Vorteil liegt darin, dass sie dazu beitragen, die Lücke zwischen dem aktuellen Forschungsstand und der medizinischen Praxis zu schließen. Damit das gelingt, sollte die Einführung neuer IT-Systeme und Infrastrukturen in Krankenhäusern jedoch immer einen direkten Mehrwert für die Nutzer bieten und keinen zusätzlichen Stressfaktor darstellen. Nur so können wir gewährleisten, dass die Digitalisierung Ärzten und Pflegekräften mehr Sicherheit gibt und sie dabei unterstützt, auch in schwierigen Zeiten die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Patrick Scheidt ist Geschäftsführer der Elsevier GmbH. Elsevier ist ein Anbieter von Informationslösungen für Fachleute aus Wissenschaft, Gesundheitswesen und Technologie.