Seit Beginn der Corona-Krise wirkt die Pandemie wie ein Katalysator und beschleunigt die Digitalisierung des Gesundheitswesens enorm. Während das Jahr 2020 den ersten großen Anstoß und rasante Umwälzungen mit sich brachte, haben sich neue Lösungen im letzten Jahr etablieren können. Im Fokus stand dabei unter anderem die Personalisierung der Medizin, also Anwendungen, die es Patient:innen ermöglichen, sich mit der eigenen Gesundheit auseinanderzusetzen. Auch Mental-Health-Anwendungen haben sich im privaten Bereich massenhaft verbreiten können. Darüber hinaus hat sich insbesondere die Telemedizin durchgesetzt. Die Gesundheitsversorgung aus der Ferne war vor Corona lediglich ein zukunftsträchtiger Kandidat. Mittlerweile ist die Telemedizin zu einem festen Bestandteil im Gesundheitswesen avanciert und entfaltet ihr Potenzial immer stärker.
Doch einen Schritt zurück. Die Corona-Pandemie hat uns deutlich vor Augen geführt, wie wichtig eine telemedizinische Infrastruktur ist. Gerade wenn Kontakte wegen der Ansteckungsgefahr vermieden werden sollten, sind überfüllte Wartezimmer so ziemlich das letzte was es braucht. Dabei geht es nicht nur um die zusätzlichen Corona-Patient:innen, sondern prinzipiell um alle, die wegen einem Rezept oder einer Krankschreibung persönlich beim Arzt oder der Ärztin vorbeischauen müssen. Weil im Gesundheitswesen traditionell nicht viel digital abläuft, waren Krankenhäuser, genauso wie die niedergelassenen Ärzt:innen, schnell überfordert. Natürlich können Operationen schlecht aus der Ferne durchgeführt werden, aber nicht jeder Arztbesuch und jedes belegte Bett machen tatsächlich Sinn.
Man möchte fast sagen, dank Corona hat sich das zum Besseren geändert und die ins Stocken geratenen Entwicklungen haben Fahrt aufgenommen. Im Wesentlichen sind dafür drei technologische Neuerungen verantwortlich. Erstens, die elektronische Patientenakte ist da. Sie ist das zentrale Element einer telemedizinischen Infrastruktur, denn dank ihr können Diagnosen, Befunde und Berichte, die in Arztpraxen oder Krankenhäusern erstellt wurden, gebündelt, vollständig und digital zur Verfügung gestellt werden. Die zusammengeführten Datensätze liegen in den Händen der Patient:innen und können an Ärzt:innen weitergegeben werden. Statt von unterschiedlichen Ärzt:innen mühsam Dokumente anfordern und auswerten zu müssen, steht unkompliziert, schnell und sicher ein genaues Bild über die Krankheits- und Behandlungshistorie der Patient:innen zur Verfügung. Ohne eine solche digitale Akte wären Fernbehandlungen nicht denkbar.
Online-Sprechstunden werden zum Standard
Der zweite wesentliche Baustein der Telemedizin sind die in der Coronakrise etablierten Online-Sprechstunden. Heute sind sie bereits fester Bestandteil in der täglichen medizinischen Versorgung. Dabei kann eine Fernbehandlung selbst dann erfolgen, wenn es keinen persönlichen Erstkontakt zwischen Arzt oder Ärztin und Patient:innen gegeben hat. Eine Vielzahl an unnötigen Vor-Ort-Besuchen fällt dadurch weg und Ärzt:innen und Patient:innen werden gleichermaßen entlastet. Die gesetzliche Grundlage für Online-Sprechstunden war schon vor der Corona-Pandemie geschaffen worden, doch die Pandemie hat die Umsetzung erheblich beschleunigt.
Der dritte Meilenstein sind die verordnungsfähigen DiGAs – Digitale Gesundheitsanwendungen – die 2021 Realität geworden sind. Seit Oktober können kostenpflichtige Apps über ein Rezept von den Krankenkassen übernommen werden. Die Anwendungsfelder sind dabei breit gestreut und reichen von der Unterstützung bei Krankheiten wie Diabetes oder Multipler Sklerose bis hin zur Behandlung von einfacher Migräne oder gar Depression. Darüber hinaus ermöglichen DiGAs chronisch kranken Patient:innen vernetzt mit ihrem Arzt oder ihrer Ärztin ihre Erkrankung zu behandeln. Dank digitaler Messgeräte sind Ärzt:innen über die Entwicklung des Gesundheitszustands jederzeit informiert.
Telemedizin 2022: E-Rezept und Vernetzung
2022 wird sich die Telemedizin aller Voraussicht nach weiter durchsetzen – mit neuen Meilensteinen. So wird es vermutlich noch im Laufe des Jahres ein einheitliches E-Rezept geben, das von gesetzlich Versicherten verpflichtend genutzt werden muss. Ursprünglich war die Einführung schon zum 1. Januar geplant, musste allerdings aufgrund der anhaltend angespannten Lage in medizinischen Einrichtungen aufgrund der Pandemie verschoben werden. Um die praktische Umsetzung zu bewerkstelligen, müssen Ärzt:innen künftig an die telemedizinische Infrastruktur angeschlossen sein und einen elektronischen Heilberufsausweis besitzen, damit eine elektronische Signatur möglich ist. Patient:innen benötigen zur Nutzung des E-Rezepts die entsprechende App. Auch die Apotheken müssen an die telemedizinische Infrastruktur angebunden sein, um E-Rezepte auslesen und bearbeiten zu können.
Eben jene Pflicht, sich an digitale Systeme anzuschließen, um überhaupt mit Patient:innen arbeiten zu können, wird die weitere Entwicklung stark vorantreiben. Denn durch die Integration wird auch die Vernetzung gefördert. Patient:innen und Ärzte tauschen sich über digitale Medizinprodukte miteinander aus. Gesundheitsdaten können in Echtzeit geteilt werden. Dadurch werden die telemedizinischen Behandlungsmöglichkeiten ohne Qualitätsverlust gegenüber dem Vor-Ort-Besuch in einer Praxis immer größer. Wir können davon ausgehen, dass die Gesundheitsversorgung bereits im Jahr 2022 deutlich effizienter und besser wird. Der Lernfaktor bei allen Beteiligten – Ärzt:innen, Patient:innen, Apotheken und Gesundheitsämter – ist dabei nicht zu unterschätzen. Gerade die digitale Vernetzung birgt ungeahnte Möglichkeiten – deren Auswirkungen vielleicht aber schon zum nächsten Jahreswechsel absehbar werden.
Vincent Vercamer ist als Health Innovation Manager beim MedTech-Unternehmen Withings tätig. Das französische MedTech-Unternehmen entwickelt intelligente Gesundheits-Produkte und -Dienstleistungen wie etwa Hybrid Smartwatches und smarte Blutdruckmessgeräte.