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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Die Entflechtung des Krankenhauses

Thomas Hagemeijer, TLGG-Consultant
Thomas Hagemeijer, TLGG-Consultant

Die digitale Zukunft der Versorgung liegt jenseits von „one-fits-all“-Lösungen, meint Thomas Hagmeijer. Es komme vor allem auf das Engagement von Städten an, wenn wir das System neu denken wollen, betont der TLGG-Berater in seinem Standpunkt.

von Thomas Hagemeijer

veröffentlicht am 05.11.2020

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Die deutschen Krankenhäuser bereiten sich auf die zweite Corona-Welle vor. Schon jetzt warnen Experten, die meisten Einrichtungen seien nicht ausreichend auf stark steigende Zahlen vorbereitet. Abgesehen von kurzfristigen Maßnahmen, die das Schlimmste verhindern, ist dies ein Moment, in dem es sich lohnt, umfassender und genauer hinzuschauen – denn Nachholbedarf gibt es auch jenseits der Pandemie.

Das hat auch die Bundesregierung erkannt: Mit dem im September verabschiedeten Krankenhauszukunftsgesetz stellt Berlin ein Investitionsprogramm von drei Milliarden Euro für die Modernisierung und Digitalisierung der deutschen Krankenhäuser bereit, ergänzt durch 1,3 Milliarden Euro, die von den Bundesländern aufgebracht werden. Das ist ein wichtiger erster Schritt in Richtung Zukunft. 

Damit diese finanziellen Mittel für die Digitalisierung deutscher Krankenhäuser aber nicht einfach verpuffen, bedarf es eines tiefgreifenden Umdenkens auch auf Seiten der beteiligten Akteure. Statt einfach nur vorhandene Modelle digital weiterzuführen und bestehende Prozesse zu digitalisieren, müssen Krankenhäuser in ihrer Digitalisierungsstrategie eine neue, ganzheitliche Logik verfolgen.   

Krankenhäuser müssen stationäre Aufenthalte reduzieren

Wie kann das aussehen? Die Antwort ist auf den ersten Blick kontraintuitiv: Neben einer stärkeren Patienten-Zentrierung sollten sich Krankenhäuser gleichzeitig vor allem die Frage stellen, wie mittels digitaler Konzepte auch Patienten außerhalb des stationären Betriebs behandelt werden können. Ziel eines Krankenhauses sollte nicht mehr sein, eine möglichst hohe Auslastungsrate zu haben, sondern im Gegenteil weniger Menschen vor Ort im Krankenhaus zu betreuen. 

Krankenhäuser müssen dafür ihr Silo-Denken aufbrechen und in Netzwerken zusammenarbeiten. In Anlehnung an das System der Knappschaft und Modelle wie „Gesundes Kinzigtal“ in Deutschland oder Kaiser Permanente in den USA sollten sich niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser und Kassen zusammenschließen und Hand in Hand arbeiten – mit dem Ziel, die Zahl der stationären Aufenthalte zu reduzieren. 

Unterstützt werden kann ein solches System von digitalen Lösungen. Apps und Smart Watches können helfen, Krankheiten frühzeitig zu erkennen und ermöglichen eine Kurskorrektur, bevor die Fahrt ins Krankenhaus notwendig wird. Neue Self-Triage-Modelle, wie etwa das der Mayo Clinic in den USA, das zur Symptom-Bestimmung auf evidenzbasierte Algorithmen setzt, helfen dabei, die ideale Anlaufstelle zu identifizieren. Online-Spezialkliniken wie das Telehealth-Start-up Maven Clinic aus New York, das Frauen Beratung und Behandlung per App anbietet, können den Gang zum Arzt oder in die Klinik in vielen Fällen überflüssig machen. Schon jetzt zeigen Partnerschaften wie die des schwedischen Telehealth-Anbieters Kry und der Klinik-Gruppe Helsa, wie hybride Ansätze, bei denen digitale und physische Versorgung eng zusammenarbeiten, funktionieren können. 

Es braucht einen übergreifenden „Reset“ des Gesundheitssystems

Eine größere Verbreitung von Fernüberwachung ist ein weiterer Schlüssel für die Entlastung von Kliniken. Die Berliner Charité hat den Mehrwert in der Behandlung von Herz-Kreislauf-Patienten – mit 15 Prozent die mit Abstand größte Gruppe unter den stationären Klinik-Aufenthalten – schon 2018 in einer Studie zeigen können. Gemeinsam mit Partnern hatte die Klinik ein technisches System zur Messung und Übertragung von Daten wie Blutdruckwerten entwickelt. Mit Unterstützung von Telemedizin, schlussfolgerte das Team der Charité, steige die Lebenserwartung von Patienten mit Herzinsuffizienz. 

Natürlich ist ein solches Umlenken nicht von heute auf morgen zu machen. Die Implementierung von Netzwerken im großen Maßstab würde einem „Reset“ des gesamten Gesundheitssystems gleichkommen. Derzeit gibt es in Deutschland fast 2.000 Krankenhäuser, darunter öffentliche, private und gemeinnützige, mit teils konkurrierenden Interessen. Der Aufbau eines übergreifenden, funktionierenden und effizienten Netzwerks erfordert die Beteiligung aller Stakeholder – und viel politisches Fingerspitzengefühl.

Um das Vertrauen in digitale Lösungen nach und nach zu erhöhen, lohnt es sich, mit kleinen Schritten anzufangen. Krankenhäuser könnten beispielsweise einzelne Leistungen über Apps wie Caspar Health abdecken, die digitale Rehabilitations- und Therapiepläne bereitstellt, und diese innerhalb der Krankenhausmauern testen, um im nächsten Schritt Patienten außerhalb des Krankenhauses einzubeziehen.

Mittelgroße Städte können zu Vorreitern werden

Die Beispiele Estland und Dänemark zeigen, wie überschaubare Einheiten mit schnellen Umsetzungskapazitäten große Sprünge machen können. Beide Länder gelten schon heute als europäische Spitzenreiter im Bereich der digitalen Gesundheit. Estland zum Beispiel investierte nicht in den Bau größerer und modernerer Krankenhäuser, sondern in die reibungslose (Daten-)Integration der gesamten Patientenreise – von der Erstellung von Risikoprofilen der Patienten über die Primärversorgung und Betreuung durch Spezialisten im Krankenhaus bis hin zur Fernüberwachung. Diese integrierten Daten bilden die Eckpfeiler für „den Übergang von der primär kurativen Medizin zur Präventivmedizin, die wesentlich kostengünstiger ist“, wie die estnische Ministerin für Gesundheit und Arbeit, Riina Sikkut, im vergangenen Jahr erklärte. 

Hier können vor allem mittelgroße Städte eine wichtige Rolle spielen und als Vorreiter fungieren, indem sie auf regionaler Ebene digital betriebene und unterstützte Netzwerke aufbauen. Sie haben die nötige regionale Verankerung und Größe, um Akteure vor Ort effizient zusammenzubringen und gemeinsam einen niedrigschwelligen „Proof of Concept“ zu entwickeln. Dieser kann dann als Vorbild für andere Regionen in Deutschland dienen. Und das System so Stück für Stück auf die Zukunft vorbereiten. 

Thomas Hagemeijer ist Consultant bei TLGG Consulting und bearbeitet dort den Themenkomplex Organisationsentwicklung im Gesundheitssektor. Seit 2017 ist er als Experte für Gesundheitssysteme der Zukunft bei TLGG Consulting angestellt. Die TLGG Consulting ist eine Strategieberatung für das digitale Zeitalter, 2018 entstanden und ausgegründet aus der Digital- und Kreativagentur TLGG. 

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