Stellen Sie sich vor: Es ist Krieg – und keiner verlässt das Haus. Überall auf der Welt wurde plötzlich vom „Krieg gegen das Coronavirus“ gesprochen. Als Emmanuel Macron vor Monaten in einer Rede gleich fünfmal die Worte „Nous sommes en guerre“ verlauten ließ, fanden das viele hierzulande übertrieben. Aus nachvollziehbaren historischen Gründen meidet man in der Politik, in den Medien und in der Öffentlichkeit ganz allgemein in Deutschland martialische Vergleiche. Doch dann stiegen auch Ökonomen wie Hans-Werner Sinn ein und ließen verlauten: „Wir befinden uns im Krieg gegen Corona.“ Politiker ihrerseits verabschieden mittlerweile Finanzpaket um Finanzpaket, um mit „Wumms“ – also „aus vollen Rohren“ und „mit schwerem Geschütz“ – auf die Auswirkungen des Virus schießen.
Diese Sprachbilder finde ich nicht übertrieben. Wir kämpfen gegen eine Gefahr – gegen einen Feind – und alle gesellschaftlichen Ressourcen und Anstrengungen werden erst einmal diesem Kampf untergeordnet. Wenn das jetzt nicht ein Krieg ist, weiß ich auch nicht, was einer sein soll. Es ist zudem – und das gibt es in der Geschichte bekanntermaßen nicht so oft – ein Krieg, in dem für Menschen und nicht gegen sie gekämpft wird. Das passiert auf einmal alles rasend schnell.
Was Historiker schon lange über Kriege wissen: Auch – manche würden sagen: vor allem – abseits der Schlachtfelder beschleunigt der Krieg das Geschehen. Technologische und gesellschaftliche Entwicklungen, die im Entstehen waren, aber noch von Routinen und Regularien gebremst wurden, nehmen dann plötzlich in Windeseile ihren Lauf – zum Guten sowie zum denkbar Schlechten.
Digitalisierung im Schnellverfahren
Wir haben in Deutschland jetzt das historische Glück, dass es in diesen Wochen und Monaten mal eine gewaltlose Entwicklung ist, die von einem Krieg beschleunigt wird: die digitale Transformation. Nach zehn zähen Jahren, in denen hierzulande immer wieder die Rede von Digitalisierung war, aber in denen immer noch vielerorts nur durch persönliche Anwesenheit, durch Stempel auf Papierbögen, durch die Übergabe von Bargeld etwas erreicht werden konnte, erleben wir nun die umfassende Digitalisierung im Schnellverfahren.
Es ist erstaunlich, in welchem Tempo vorher Undenkbares gerade nicht nur denk-, sondern greif- und vor allem umsetzbar wird. Vermeintlich unverrückbare Grundsätze, die bislang viele digitale Lösungen verhindert haben, fallen auf einmal wie Dominosteine um. Logischerweise verändert sich das Gesundheitswesen als einer der ersten Bereiche umfassend. Das zeigt etwa diese Episode aus dem März:
- Dienstag, 10. März: Patienten mit leichten Erkrankungen der oberen Atemwege können sich nun bis zu sieben Tage krankschreiben lassen, ohne dass sie dafür eine Arztpraxis aufsuchen müssen. Eine telefonische Rücksprache mit dem Arzt reicht aus.
- Freitag, 20. März: Ab sofort dürfen Logopäden in Deutschland ihre Patienten über Videoanrufe fernbehandeln. Unterschriften, die die Durchführung der Sprachtherapie bestätigen, können im Nachhinein eingeholt werden; die Krankenkassen setzen alle von Unterschriften abhängigen Abrechnungsfristen ohnehin erst einmal außer Kraft.
- Montag, 23. März: Eine Arbeitsunfähigkeit darf ab sofort auch für bis zu zwei Wochen vom Arzt telefonisch bestätigt werden, wenn ein Verdacht auf Corona besteht.
- Dienstag, 24. März: Die DAK startet eine bundesweite Telefonkampagne, in der sie Versicherte anruft und sie auf die Möglichkeiten der DAK-App aufmerksam macht.
- Dienstag, 24. März: Bis Mitte Juni dürfen Hebammen Geburtsvorbereitungskurse per Videotelefonie anbieten; auch nach der Geburt können sich Mütter mit ihren Hebammen per Videoanruf austauschen.
Nach Corona: Bleibt alles anders?
Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Entwicklung ziehen? Das Gesundheitswesen in Deutschland ist zwar qualitativ extrem hochwertig, aber tendenziell bürokratieanfällig, unglaublich papierverliebt und übermäßig skeptisch in allem, was Digitalisierung angeht. Auch die Patienten lehnen seit Jahren viele digitale medizinische Entwicklungen aus Angst vor Überwachung ab. Man denke nur an den jahrelangen Streit über die biometrische Krankenversichertenkarte (bis zum Bundesverfassungsgericht) oder über die Weigerung vieler Ärzte, sich mit digitalen Kontaktwegen wie Jameda oder Google zu befassen (auch hier war der Gang zum Gericht der beliebteste Weg). Wenn also ausgerechnet hier binnen Tagen und Wochen auf einmal so viel Revolutionäres möglich ist, gibt es keinen Bereich des Lebens mehr, in dem jetzt mehr Digitalisierung zu erwarten wäre.
Es etablieren sich gerade neue allgemeine Verhaltensmuster, die weit darüber hinausgehen, dass man sich gerade nicht die Hand gibt – Verhaltensmuster, die schon im Ansatz vorhanden oder teilweise unter gewissen Schichten sehr weit verbreitet sind, die jetzt aber gezwungenermaßen in atemberaubendem Tempo zu gesellschaftlichen Standards werden. Das muss als Chance für moderne Gesundheitspolitik verstanden werden.
Nach der Corona-Krise werden Ärzte nun nicht mehr jeden, der anruft und in den Hörer hustet, für 14 Tage krankschreiben können. Dass die Krankenkassen aber Logopäden oder Hebammen wieder verbieten, die ihnen anvertrauten Menschen aus triftigem Grund Therapien oder Informationen per Videoanruf anzubieten, muss als undenkbar gelten. Hier ist die Politik angehalten, krisenbedingte Ausnahmen und Schnellschüsse zu in Gesetzen verankerten Standards zu erheben.
Denn, so verheißt eine weitere Historiker-Binse über die Auswirkungen von Kriegen: Versuche, den status quo ante bellum wieder herbeizuführen, sind immer zum Scheitern verurteilt.
Nils Seebach ist Co-Geschäftsführer der strategischen Digitalberatung Etribes, sein Fokus liegt aktuell im Bereich Healthcare. Der Digital-Experte ist zudem Aufsichtsrat der PHOENIX Group und im Beirat von BEWATEC aktiv.