Eigentlich sollte das Inlinerfahren am frühen Freitagmorgen für Entspannung sorgen. Sport unter blauem Himmel als Ausgleich zum Corona-Stress. Doch es kam anders. Ein rechts abbiegender LKW übersah mich, mein Körper warf sich nach hinten. Zum Glück. Schwindel, Rettungswagen, Notaufnahme. Nach einigen Stunden dann der Befund: Ein gebrochener Lendenwirbel. Alle Nerven sind okay, meine Beine kann ich bewegen, Gott sei Dank.
Von Corona trennen mich plötzlich nur noch drei Etagen im Krankenhaus sowie professionelles Personal mit Mundschutz. Alle sind freundlich, hilfsbereit, kompetent – alles außer dem Essen widerlegt jedes Klischee über deutsche Krankenhäuser. Doch eins fehlt mir noch deutlicher als die Wochen zuvor im Homeoffice: sozialer Kontakt. Besuch ist verboten, zum Schutz des Personals, der Patienten und der Besucher. Das ist zugleich nachvollziehbar und subjektiv kaum zu ertragen. In einer doppelten Krisensituation aus Pandemie und Verletzung sehnt sich jede Faser nach einer Berührung, die einem keine Thrombosespritze setzt.
Ich bin nicht der schlimmste Fall, nach vier Tagen kann ich einen Freund an der Krankenhauspforte treffen. Er bringt Kleidung und frisches Obst. Doch die Patienten, die es nicht bis zum Eingang der Klinik schaffen, haben doppelt Pech. Sie sind nicht nur ihrer Mobilität beraubt, sondern auch jeder liebevollen Erfahrung, die nicht aus dem Telefonhörer dröhnt. Nach mittlerweile acht Tagen im Krankenhaus treffe ich meine Freundin. Während wir auf dem Vorplatz in der Sonne stehen, kommt ein junger Mann an uns vorbei. „Genießt eure Liebe", fordert er uns auf. Seine Partnerin hat sich vom Balkon gestürzt, liegt im künstlichen Koma. Darf er sie besuchen?
Eine Krankenschwester berichtet von anderen schweren Fällen, gegen die mir mein eigenes Leiden sehr relativ scheint: 85-jährige Männer, die ihre Ehefrau nicht sehen dürfen. Man wisse da nicht, ob sie sich jemals lebend wiedersähen. Die Schwester seufzt, während sie davon erzählt. Es ist ein Dilemma zwischen dem Schutz aller, des Gesundheitssystem insgesamt – und der Gesundung der Kranken. Ein Patentrezept fehlt, wie so oft in diesen Tagen.
Während mein Rücken langsam wieder weniger schmerzt und die Narben heilen, denke ich viel über die Menschen auf den Intensivstationen und in Pflegeheimen nach. Pflegeheime wie das meines Großvaters, dass ich als Kind nur ungern betrat. Noch schlimmer als die psychischen Kreisverkehre beim alleine leiden und genesen muss es sein, einsam zu sterben. Bis es eine Lösung gibt, bleibt uns nur eins: Telefonieren, Pakete oder Briefe schicken. Irgendwie füreinander da sein, ohne anwesend zu sein, um nicht verrückt zu werden.
Paul Meerkamp ist Autor beim Tagesspiegel.