Gesellschaften entwickeln sich weiter durch Innovationen, und Innovationen entstehen, wenn erfinderische Wissenschaft in praktische Lösungen für reale Probleme verwandelt wird. Exzellente, anwendungsnahe Forschung ist deshalb der Schlüssel zum Erfolg von Gesellschaften.
China hat das erkannt, aber auch Länder wie die USA, Israel und die Schweiz investieren deshalb viel in die Förderung von Bildung und Wissenschaft. Auch Deutschland investiert einiges – 2021 insgesamt 9,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes – aber dennoch ist der Zustand von Bildung und Wissenschaft hierzulande alarmierend.
Seit zehn Jahren sinkt das Bildungsniveau, jeder vierte Schüler erreicht nicht die Mindeststandards, jeder Dritte in Deutschland misstraut oder ist indifferent gegenüber der Wissenschaft. Im internationalen Vergleich ist das Mittelmaß. Auch im Hochschulbereich bewegt sich Deutschland nur auf mittleren Plätzen. Von den zehn offiziell als Exzellenzuniversität bezeichneten Hochschulen schaffen es im aktuellen QS Ranking nur drei unter die Top 100, sowie eine Universität, die zum Exzellenzverbund Berlin gehört.
Deutschland, Land der Wissenschaft?Selbst die beste deutsche Universität, die TU München, schafft es nur auf Platz 37, direkt hinter der schweizer EPFL auf Platz 36. Überhaupt lohnt sich ein Blick zu unserem viel kleineren, aber äußerst innovativen Nachbarn: Die Schweiz hat nur ein Zehntel der Bevölkerungszahl Deutschlands. Dennoch schaffen es dort drei Universitäten unter die Top 100.
Die ETH Zürich ist mit Platz sieben sogar die beste kontinentaleuropäische Universität, nach jeweils drei aus den USA und aus Großbritannien. Die Schweiz liefert auch ein gutes Beispiel dafür, dass wissenschaftliche Exzellenz nicht vom Himmel fällt. Bis 2000 galt die EPFL als eher mittelmäßig. Im QS Ranking von 2007 belegte sie Platz 117, womit sie heute knapp vor dem KIT (119), einer der zehn deutschen Exzellenzuniversitäten, liegen würde. Drei Jahre später und dank einer fähigen Führung und rigiden, auf Exzellenz ausgerichteten Strategie belegte die EPFL Rang 32, und sie hat diese Position in etwas bis heute gehalten.
Es ist offensichtlich, dass die Verbesserung von Bildung und Forschung eine der ganz großen und zentralen Herausforderungen für unsere Gesellschaft ist. Je wissenschaftlich exzellenter eine Gesellschaft aufgestellt ist, desto wahrscheinlicher wird sie es schaffen, für die drängenden Probleme unserer Zeit innovative Lösungen zu entwickeln und ihr Wohlergehen zu sichern.
Exzellenz in der Cybersicherheit
Eine wichtige Voraussetzung: Wir brauchen exzellente, anwendungsnahe Forschung in der Cybersicherheit. Nur so können wir in Deutschland mit den Cyberangreifern Schritt halten, unsere digitalen Infrastrukturen dauerhaft besser absichern, die Einführung von Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) und die Digitalisierung verantwortungsvoll gestalten, und nur so können deutsche Firmen führende Positionen im Markt für Cybersicherheitslösungen einnehmen.
Gerade im Bereich der Cybersicherheitsforschung hat sich in Deutschland in den vergangenen Jahren sehr viel getan, was vielleicht auch ein Vorbild für andere Forschungs- und Technologiebereiche sein könnte. Ich selbst war am Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie SIT in Darmstadt am Aufbau des Nationalen Forschungszentrums für angewandte Cybersicherheit Athene beteiligt.
Beispielhafte Forschung in Deutschland
Dieses wurde 2019 mit viel Unterstützung des damaligen Fraunhofer-Präsidenten und der damaligen Bundes- und hessischen Landesregierung als Zentrum der Fraunhofer-Gesellschaft gegründet und ist heute mit etwa 600 wissenschaftlichen Mitarbeitern das größte Forschungszentrum dieser Art in Europa. Das Besondere an Athene war und ist seine Konstruktion und seine Zielsetzung. Es vereint unter einem Dach universitäre und außeruniversitäre Forschung, und es strebt konsequent nach Exzellenz.
Ganz im Sinne der Mission der Fraunhofer-Gesellschaft und der Strategie des damaligen Fraunhofer-Präsidenten wird „exzellent” verstanden als wissenschaftliche Spitzenforschung, die sich aber nicht nur mit dem Veröffentlichen von Papieren auf Spitzenkonferenzen begnügt, sondern sich zugleich ganz konkret der drängenden Probleme von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft annimmt.
Heute gehören das Fraunhofer SIT und Athene zu international führenden Forschungseinrichtungen im Bereich der Cybersicherheit. Wir publizieren nicht nur auf Top-Konferenzen, sondern entwickeln auch Methoden und Werkzeuge, die unmittelbar eingesetzt werden können. Wir unterstützen beispielsweise Behörden und Unternehmen durch neuartige Methoden zur Durchführung groß angelegter Schwachstellenscans, etwa Scans der externen Angriffsoberfläche aller deutschen Universitäten.
Durch neuartige Verfahren zur Erkennung von Angriffen konnten wir beispielsweise in den vergangenen zwei Wochen laufende Cyberangriffe gegen Ministerien in zwei Bundesländern erkennen, die sie daraufhin umgehend stoppen und so Schaden verhindern konnten. Wir entwickeln einfach nutzbare und zugleich sehr präzise Werkzeuge für die Softwareanalyse, wir führen medienforensische Untersuchungen und Darknet-Studien durch, wir entwickeln Methoden zur Erkennung von Deepfakes und von KI-erzeugten Inhalten und vieles andere.
Wir transferieren unsere Forschungsergebnisse in die Wirtschaft, Start-ups oder etablierte Unternehmen, und in die Politik und Gesellschaft durch eigene Angebote und Thinktank-Aktivitäten. All dies basiert auf exzellenter Forschung, und ohne wären diese Ergebnisse nicht möglich gewesen. Die Gründung und der Erfolg von Athene sind kein Zufall, sondern das Ergebnis einer sehr gezielten und konsequent umgesetzten Strategie.
Und wir sind nicht die einzigen: Auch die anderen großen Forschungsgesellschaften haben die Bedeutung der Cybersicherheitsforschung für Deutschland erkannt. In Saarbrücken entstand etwa das Helmholtz-Zentrum Cispa, in Bochum das Max Planck-Institut für Sicherheit und Privatsphäre, die beide ebenfalls exzellente Forschung betreiben. Gemeinsam tragen die Zentren maßgeblich dazu bei, dass Deutschland im Bereich der Cybersicherheitsforschung bereits heute zu den international führenden Forschungsnationen zählt.
Was man aus den Erfolgen lernen kann
Wer in Deutschland forschen möchte, kann dies an Universitäten, in einer außeruniversitären Forschungsgesellschaft wie Fraunhofer, Helmholtz, Leibniz oder Max Planck, oder in der Industrie tun. Überall gibt es exzellente Forschung. Für welchen Ort man sich entscheidet, hängt von vielen Faktoren ab.
Wer in der Industrie forscht, muss seine Forschung meist an den konkreten Bedürfnissen seines Arbeitgebers ausrichten, und häufig ist die Grenze zwischen Forschungs- und Geschäftsabteilungen fließend. Wer in der Industrie forscht, ist zudem häufig in Entwicklungs- und Kundenprojekte ohne viel Forschungsbezug involviert, und wer sich ohnehin auf Beratung, Entwicklung, Dienstleistung und Verkauf konzentrieren möchte, dürfte in der Industrie in jedem Fall besser aufgehoben sein. Die oft geringere Freiheit und stark schwankende Wissenschaftlichkeit der Arbeit wird dort kompensiert durch eine bessere Bezahlung, klare Karrieremöglichkeiten und oft auch durch bessere Arbeitsbedingungen.
Wer an einer öffentlichen Einrichtung forscht, tut dies deshalb meist nicht des Geldes wegen, sondern aus intrinsischen Gründen. Am Anfang steht neben der wissenschaftlichen Neugierde oft die Promotion, also die persönliche Weiterqualifizierung. Die Außeruniversitären haben zwar kein eigenes Promotionsrecht, sind aber alle eng mit Universitäten verbunden und ermöglichen hierüber ihren Mitarbeitern die Promotion.
Auch für die, die nach der Promotion in der Forschung bleiben, steht meist die wissenschaftliche Karriere im Vordergrund. Dauerstellen sind rar in der öffentlich finanzierten Forschung, so dass der Weg fast schon zwangsläufig die Karriereleiter hoch führen muss, hin zum Hochschullehrer und Professor, hin zu einer wissenschaftlichen Leitungsfunktion. Langfristig zählen die wissenschaftliche Freiheit, Selbstbestimmung und die Anerkennung und der Einfluss in der jeweiligen Wissenschaftsgemeinschaft.
Das gilt gleichermaßen für Universitäten und außeruniversitäre Einrichtungen. Im deutschen Wissenschaftssystem steht Max Planck üblicherweise für die erkenntnisorientierte, Fraunhofer für die anwendungsnahe Forschung. Im Einzelfall ist die Zuordnung oft nicht so eindeutig, und letztlich auch unerheblich. Alle Ausprägungen haben ihre Berechtigung, und für alle gilt, dass nur die Forschung gut ist, die nach Exzellenz strebt. Das ist nicht elitär, sondern ist der Kern dessen, was Wissenschaft ausmacht.
Wo Exzellenz anfängt
Wollen wir unsere Innovationsprobleme lösen, müssen wir – Staat, Gesellschaft, Wirtschaft – mehr und strategischer in Bildung und Wissenschaft investieren.
Erstens, Innovation und Forschung brauchen gut ausgebildete Menschen. Hier liegt das größte Problem in der schulischen Ausbildung. Alle Kinder sollen eine gute, zukunftsorientierte Ausbildung erhalten. Die Schule ist der Ort, wo Menschen rationales Denken, Diskurs, soziales Miteinander und Toleranz lernen, wo bestimmt wird, wie unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen wird.
Die Realität sieht oft aber anders aus, vielen Schulen fehlt es grundlegend an Geld und Personal. Bund und Länder müssen dringend die Verbesserung der Schulbildung zu einer prioritären und gemeinsamen Aufgabe machen. Aber nicht nur die Schulbildung ist ein Problem, auch in der Kinderbetreuung, Vorschulerziehung und in der Förderung von Familien liegt vieles im Argen. Wer nach mehr gut ausgebildetem Personal ruft, sollte es zuallererst Frauen und Männern leichter machen, ihre Rollen als Mütter und Väter mit einer beruflichen Karriere zu verbinden.
Rückendeckung von Politik und Wirtschaft
Zweitens, wir brauchen die politische und finanzielle Rückendeckung von Politik und Wirtschaft. Bildung und Forschung bestimmen die Zukunft, und wenn wir unsere Zukunft sichern und verbessern wollen, müssen wir mehr in diese Themen investieren. Im Jahr 2020 flossen 3,13 Prozent des Bruttoinlandprodukts in die Forschung, zwei Drittel davon kamen aus der Wirtschaft. Mit diesem Prozentsatz liegen wir leicht vor Großbritannien, aber hinter den USA (3,46 Prozent) und deutlich hinter Südkorea (4,93). Auch hier ist Luft nach oben. Bedenklich stimmt, dass der Haushalt des BMBF für 2024 um 5,4 Prozent gegenüber 2023 schrumpfen soll. Ob und welche Auswirkungen diese Kürzungen haben werden, ist allerdings noch unklar.
Drittens, alle Forschungseinrichtungen brauchen eine auf Exzellenz ausgerichtete Strategie. Viele Universitäten haben solche Strategien entwickelt, oft getriggert durch ihre Teilnahme an den bundesweiten Exzellenzwettbewerben, aus denen die heutigen Exzellenzuniversitäten hervorgegangen sind. Wie die eingangs zitierten Hochschulrankings zeigen, ist aber auch hier noch viel zu tun. Wir sollten gezielt von den Strategien anderer Länder (beispielsweise USA, UK, Schweiz) und deren Spitzenuniversitäten lernen. Auch die großen Forschungsgesellschaften verfolgen bereits Strategien, die auf Exzellenz in ihrem jeweiligen Sinne ausgelegt sind.
Alle diese Beobachtungen treffen natürlich auch auf die Cybersicherheit zu. Die Cybersicherheitsforschung hat sich in den vergangenen Jahren sehr gut entwickelt und – siehe oben – exzellente Forschungszentren hervorgebracht. Aber alleine schon aufgrund der äußeren Entwicklungen ist offensichtlich, dass wir noch sehr viel mehr und fokussiertere Forschung benötigen.
Viele grundlegende Probleme der Cybersicherheit sind immer noch ungelöst. Der technologische Fortschritt etwa im maschinellen Lernen führt zu neuen Herausforderungen und zu neuen Möglichkeiten für die Cybersicherheit. Hinzu kommt, dass die Gefahrenlage sich zuspitzt. Die Digitalisierung vergrößert die Angriffsoberfläche, und die Motivation für finanziell und politisch motivierte Cyberangreifer steigt stetig.
Exzellenz, kein Projektgeschäft
Ich vermute, nahezu alle Politiker und Leitungen von Forschungseinrichtungen und -abteilungen werden meinen bisherigen Analysen und Empfehlungen zustimmen. Es muss aber mehr passieren und wir müssen auch darauf achten, in unserem Streben nach Exzellenz nie nachzulassen und nicht in die falsche Richtung zu gehen.
Im August 2023 sagte der neue Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft in einem Interview: „Wer zu Fraunhofer geht, tut das nicht vorrangig um einer wissenschaftlichen Karriere willen. Wer die anstrebt, ist an den Universitäten oder bei Max Planck besser aufgehoben. Wer zu Fraunhofer geht, den interessiert das Projektgeschäft.“
Diese Bemerkung mag die Fraunhofer-Gesellschaft vor zehn Jahren beschreiben, nicht aber die von heute. Als Strategie für exzellente Forschung und mehr Innovation ist diese Sichtweise ungeeignet. Die Fraunhofer-Gesellschaft macht exzellente, anwendungsnahe Forschung zum Wohle von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Sie ist ein gemeinnütziger Verein nach den Regeln des öffentlichen Dienstes, kein gewinnorientiertes Unternehmen. Das Projektgeschäft sollte Fraunhofer deshalb besser der Wirtschaft überlassen.
Das bedeutet nicht, dass Fraunhofer keine Auftragsforschung für die Wirtschaft machen soll, ganz im Gegenteil. Im Jahr 2022 erhielt Fraunhofer 787 Millionen Euro aus der Wirtschaft, mehr als die öffentliche Grundfinanzierung von 708 Millionen Euro. Diese Auftragsforschungen müssen aber Projekte mit wissenschaftlichem Anspruch sein, durchgeführt von Wissenschaftlern, die sich auch als solche verstehen und die in ihrem Fachgebiet zur Weltspitze zählen oder zumindest danach streben. Das nennt man dann eine wissenschaftliche Karriere. Wer zu Fraunhofer geht, der will forschen – genauso wie der, der an eine Universität oder zu Max Planck geht, nur eben anwendungsnaher. Nicht wissenschaftliche Karrieren kann man anderswo besser machen.
Es ist wichtig für die Innovation in Deutschland, dass die Fraunhofer-Gesellschaft ihre bisherige erfolgreiche Exzellenzstrategie fortsetzt. Kein exzellenter Wissenschaftler dürfte zu einer Forschungsorganisation gehen, die nicht mit Wissenschaft, sondern mit Projektgeschäft wirbt. Es ist sehr einfach, Exzellenz zu verlieren, sie zu erreichen, ist harte Arbeit.
Haya Shulman ist Professorin für Cybersicherheit am Institut für Informatik der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Mitglied im Direktorium des Nationalen Forschungszentrums für angewandte Cybersicherheit Athene. Sie gab Ende September ihren Abschied von der Fraunhofer-Gesellschaft bekannt.
In unserer Reihe „Perspektiven“ ordnen unsere Kolumnist:innen regelmäßig aktuelle Entwicklungen, Trends und Innovationen im Bereich der Cybersicherheit ein. Zuvor von Shulman im Background Cybersicherheit erschienen: Staatliches Schwachstellenmanagement für mehr Sicherheit