Vor zwei Jahren hat Putins Russland die Ukraine überfallen und spätestens damit der freien, demokratischen Welt den Kampf angesagt. Seine Militäroperation flankiert er mit gezielter Desinformation. Gerüchte und Lügen sollen prorussische Narrative aufbauen und die Ukraine und ihre Unterstützer in ein schlechtes Licht rücken. Andere Falschnachrichten haben das Ziel, Gesellschaften wie die unsrige zu spalten und so zu schwächen.
Falsche und irreführende Informationen waren schon immer fester Bestandteil hybrider Kriegsführung. Durch die Möglichkeiten der Digitalisierung werden sie aber wirkmächtiger. Insbesondere Soziale Netzwerke sind das perfekte Instrument, um falsche Informationen schnell zu verbreiten und die ursprünglichen Urheber unkenntlich zu machen.
89 Prozent der Deutschen waren nach einer Untersuchung des Bundesverbandes Bitkom 2022 in sozialen Netzwerken aktiv. 57 Prozent haben selbst Inhalte veröffentlicht oder mit ihnen interagiert. Und heute haben emotionale und polarisierende Informationen für Facebook, Tiktok oder Telegram einen besonders hohen Nachrichtenwert – und werden durch Algorithmen weiter befeuert. Sie halten Nutzerinnen und Nutzer länger online. Dadurch lässt sich mehr Werbezeit verkaufen.
Wie gespalten ist die Gesellschaft wirklich?
Zudem befördern Algorithmen einen sogenannten „Rabbit-Hole-Effekt“, indem sie immer extremer werdende Inhalte zu den eingangs geklickten Themen empfehlen. Laut Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen erleben wir eine zunehmend gereizte Gesellschaft, da wir uns einerseits mit Inhalten und Profilen in „Echokammern“ beschäftigen, die unsere eigenen Überzeugungen bestätigen, aber andererseits ein „Filtercrash“ mit Andersdenkenden in der nächsten Kommentarspalte oder im Newsfeed folgt. Mit dem Ergebnis, dass Menschen in Deutschland die Gesellschaft als gespaltener wahrnehmen, als sie es tatsächlich ist.
Wir erleben eine Polarisierung auf Speed und immer mehr Akteur:innen, die Spaltung als Geschäftsmodell betreiben. Der Soziologe Steffen Mau nannte diese treffend „Polarisierungsunternehmer“: Sie heizen die Debatte bewusst mit emotionalen und polarisierenden Inhalten an, um mit Likes und schnell geteilten Beiträgen das eigene politische oder ökonomische Kapital zu mehren. Damit machen sie sich zu willigen Helfer:innen von Desinformationskampagnen.
Wir müssen uns bewusst machen, dass unser digitales Umfeld immer auch ein Angriffsfeld feindlich agierender Staaten ist. Solche Angriffe nehmen besonders im Umfeld von Wahlen zu. So wurden über Außenministerin Annalena Baerbock während des Bundestagswahlkampfes 2021 nach Erkenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz massiv Falschinformationen von Russland gestreut. Sie wurde wahrscheinlich auch deshalb zur Zielscheibe, weil sie das Erpressungspotenzial durch Nord Stream 2 klar benannte. Indem die AfD und ihre Verbündeten russische Desinformation bewusst verbreiten, verwischen die Grenzen zwischen ausländischer und inländischer Informationsmanipulation. Mit dem Bündnis Sarah Wagenknecht kommt ein weiterer Multiplikator für Propaganda aus Moskau hinzu.
Auch der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz zeigte mit seinem Vorwurf des „Sozialtourismus“ gegenüber ukrainischen Geflüchteten im März 2022, wie der politische Feind von außen Wortgeber für innenpolitische Debatten werden kann. Der Begriff stammte aus einer anonymen Sprachnachricht auf Telegram, in der über Flixbusreisen zwischen der Ukraine und Deutschland fabuliert wurde, wie der ARD-Faktenfinder herausarbeitete. Verschiedene Medien griffen die Erzählung und die Äußerungen von Friedrich Merz auf und machten sie populär. So wurde aus einer „Fake News“ eine reale Nachricht und ein konservativer Politiker zum Polarisierungsunternehmer und trojanischen Pferd russischer Desinformation.
Spätestens wenn eine ausländische Desinformationskampagne zum Gegenstand innenpolitischer Debatten im Mainstream wird, ist die Saat von Putins Bot-Soldaten aufgegangen. Denn je mehr solche Propaganda verfängt, desto stärker wachsen Verunsicherung und Polarisierung in der Gesellschaft und desto fruchtbarer wird der Boden für nachfolgende Desinformationskampagnen. Diesen Teufelskreis müssen wir durchbrechen.
Politische Regulierung allein wird Desinformation nicht stoppen
Verständlicherweise rufen viele Bürger:innen nach härteren politischen Antworten. Und einiges passiert auch: Der Rat der Europäischen Union hat im März 2022 die Propagandasender Russia Today und Sputnik in der EU verboten. Der Europäische Auswärtige Dienst hat eine spezielle Taskforce gegründet, um ausländischer Desinformation entgegenzuwirken. Die Datenbank „EUvsDisinfo“ registriert tausende Fälle und Narrative russischer Aktivitäten und entkräftet sie. Mit dem „Gesetz über digitale Dienste“ (DSA) legt Europa ein „Grundgesetz für das Internet“ vor, das Google, Facebook, Tiktok und Co. verpflichtet, gegen Desinformation und Hass mit sogenannter Risikoabschätzungen vorzugehen.
In der Tat dürfen wir den Konflikt mit den großen Konzernen nicht länger scheuen und müssen die Möglichkeiten des DSA jetzt, wo es da ist, voll ausschöpfen. Es braucht Kontrollen, Ermittlungen und – wo angebracht – hohe Strafen: bis zu sechs Prozent des Jahresumsatzes, so sieht es das Gesetz vor. Die Algorithmen, die bestimmen, was viral geht und warum, dürfen nicht länger alleiniges Geschäftsgeheimnis der Konzerne sein. Sie definieren, wer was sieht und was unsichtbar wird, und sollten daher Gegenstand gesellschaftlicher Debatte werden können.
Aber mit Regulierung allein werden wir das Problem nicht lösen. Wir werden der technischen Entwicklung immer hinterherhinken. Wir wollen keine Zensurbehörden oder Plattformen, die darüber entscheiden, was „wahr“ und was „falsch“ ist. Nachrichten in privaten Chats, auch wenn sie sich über Gruppen schnell millionenfach verteilen, können wir kaum kontrollieren und regulieren. Die Polarisierung hat sich so sehr als Geschäftsmodell etabliert, dass sich selbst traditionsbewusste Medienhäuser der Logik der Empfehlungsalgorithmen angepasst haben. Und auch wir Politiker:innen setzen gerne auf polarisierende Thesen, um besonders viel Aufmerksamkeit zu erhalten. Das ist auch nicht verwerflich, solange wir keine manipulativen Andeutungen oder bewusste Lügen zum kurzfristigen Vorteil verbreiten. Aber der Grat ist schmal.
Wir brauchen einen gesellschaftlichen Pakt gegen Desinformation
Dieses Jahr finden die Wahlen für das Europaparlament, in drei ostdeutschen Bundesländern und in zahlreichen Kommunen statt. An den Manipulationsversuchen von Putin und anderen Akteuren können wir wenig ändern. Aber wir können ihnen etwas entgegensetzen; unsere Demokratie und Freiheit gegen Angriffe verteidigen, so wie wir unser Territorium verteidigen würden.
Gerade in diesem Jahr sollten wir – Politiker:innen, Medienunternehmen und auch mündige Bürger:innen – alles vermeiden, was uns zu Gehilf:innen feindlicher Staaten macht: die polarisierende Punchline nicht aussprechen, die schnelle Schlagzeile nicht drucken, die Whatsapp-Nachricht nicht unhinterfragt in die Familiengruppe weiterleiten.
Damit uns das gelingt, braucht es staatliche Strukturen, die die Verbreitung von Desinformationen beobachten, einordnen und dagegen vorgehen. Die entsprechende Gesetzesgrundlage in Deutschland fehlt hierfür noch, entsprechende organisatorische und technische Strukturen werden gerade aufgebaut. Zivilgesellschaftlich gibt es bereits einige Initiativen, die wir stärker unterstützen sollten.
Selbstverantwortung ernst nehmen
Medien und andere demokratische Institutionen auf EU-, Bundes- und Landesebene sollten weiterhin Portale zum Fakten-Check anbieten. Lobenswert sind auch zivilgesellschaftliche Projekte wie das der Bertelsmann-Stiftung, bei dem Bürger:innen Empfehlungen zum Umgang mit Desinformation entwickeln sollen. Oder die gemeinnützige Organisation CeMAS, die Verschwörungsideologien in Nachrichtendiensten wie Telegram analysiert und Gegenstrategien entwickeln will. Neben dem Debunking – also der Dekonstruktion von Falschmeldungen im Nachhinein – brauchen wir auch Prebunking, also präventive Sensibilisierung, bevor manipulative Narrative verfangen.
Juristisch müssen wir uns ebenfalls zur Wehr setzen: Ich bin selbst schon gegen Medienportale erfolgreich juristisch vorgegangen, die verleumderische Desinformationen über mich verbreitet haben. Die Organisation HateAid hat dabei geholfen. Solche Organisationen brauchen mehr finanzielle Ressourcen, um Menschen gegen Hass- und Desinformationskampagnen zu unterstützen; gerade auch solche, die weniger prominent sind.
Und ja, wir alle dürfen Desinformationsschleudern nicht weitermachen lassen, ohne einzuschreiten. Wir alle sollten den Onkel im Familienchat, den Ministerpräsidenten auf X oder den reichweitenstarken Influencer auf TikTok darauf hinweisen, wenn sie Falschinformationen verbreiten – einigen ist dies vielleicht nicht einmal bewusst. Lasst uns das Bild nochmal checken, auch, wenn es der Bekannte auf Whatsapp weitergeleitet hat – vielleicht ist es ja ein Deepfake. Lasst uns Fehler eingestehen und einräumen, wenn wir mal über das Ziel hinausgeschossen sind oder Falschinformationen aufgesessen sind.
Im Interesse der Sicherheit unseres Landes ist es aber vor allem unsere Aufgabe als Meinungsmacher:innen, dass wir stärker als Demokratie- denn als Polarisierungsunternehmer:innen agieren: Wir müssen den demokratischen Wettstreit der Ideen statt den der Schlagzeilen führen. Eine wehrhafte Demokratie braucht Menschen, die sie verteidigen. Unsere besten Waffen – neben Gesetzen und Ermittlungen – sind demokratischer Anstand und ein wachsamer Blick. Lasst sie uns zur Grundlage für einen Pakt der Demokrat:innen gegen Desinformation und Informationsmanipulation machen.
Hannah Neumann ist friedens- und menschenrechtspolitische Sprecherin der Fraktion „Die Grünen/Europäische Freie Allianz (EFA)“ und Vize-Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Europäischen Parlament.