Seit 2011 müssen alle Landwirt:innen in der EU genau festhalten, welche Pestizide sie wann und wo ausbringen. Doch in Deutschland werden diese Daten bisher von keiner Behörde erfasst. Kontrolliert werden die Aufzeichnungen jährlich nur bei weniger als einem Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe. Auswertungen finden gar nicht statt.
Diese wertvollen Informationen verstauben also in Schubladen oder auf Festplatten und dürfen nach drei Jahren vernichtet werden – meist ohne, dass sie je jemand angesehen hätte. Auskunft über das Ausmaß des Pestizideinsatzes in Deutschland geben nur die wenig aussagekräftigen nationalen Absatzzahlen oder die Erhebungen des Julius Kühn-Instituts aus dem Panel Pflanzenschutzmittel-Anwendungen, die auf freiwilligen Angaben einiger weniger Betriebe beruhen.
Ab 2026 müssen die Aufzeichnungen gemäß einer neuen EU-Gesetzgebung zumindest elektronisch aufgezeichnet und den Behörden kurzfristig zugänglich gemacht werden. Ein Fortschritt, besonders im Vergleich zu den bisher oft unleserlichen, handschriftlich geführten „Spritzheften“. Doch trotz neuer EU-Regeln ist weiterhin nicht absehbar, dass die Daten umfassend gesammelt und ausgewertet werden.
Die Agrarminister:innen der Länder, deren Behörden für die Daten zuständig sind, forderten in den Jahren 2021 und 2022 den Bund auf, ein bundesweit einheitliches System zur Erfassung der Pestizid-Anwendungsdaten zu prüfen. Nach den Bauernprotesten im vergangenen Winter vollzogen viele von ihnen einen Richtungswechsel und lehnen ein derartiges System inzwischen ab.
Die meisten Deutschen wünschen eine Veröffentlichung der Spritzdaten
Eine Forsa-Umfrage im Auftrag des Umweltinstituts zeigt: 78 Prozent der Befragten wollen, dass die Aufzeichnungen über den Einsatz von Pestiziden erfasst und veröffentlicht werden, sodass Anrainer:innen nachvollziehen können, welchen Pestiziden sie ausgesetzt sind. Nicht nur das sollte Anlass für die Agrarminister:innen sein, ein bundesweit einheitliches System zur elektronischen Erfassung und Veröffentlichung aller Pestizid-Anwendungsdaten auf den Weg zu bringen.
Warum wir Pestizidtransparenz brauchen
Wissenschaftler:innen warnen seit Langem, dass sie Umwelt- und Gesundheitsrisiken durch Pestizide ohne genaue Daten über deren Einsatz in der landwirtschaftlichen Praxis nicht sinnvoll erforschen und bewerten können. Langfristige und möglicherweise indirekte Auswirkungen werden im Zulassungsverfahren oft nicht ausreichend berücksichtigt, da sie in Laborversuchen nicht erfasst werden können.
Ohne Daten zur lokalen Anwendung von Pestiziden lassen sich beispielsweise gefährliche „Cocktaileffekte“ durch verschiedene Wirkstoffe schwer beurteilen oder untersuchen. Auch Wasserversorger müssen über Pestizidanwendungen genau Bescheid wissen, um die Qualität und Sicherheit unseres Trinkwassers gewährleisten zu können – doch auch sie tappen im Dunkeln.
Pestizidreduktionsziele bleiben zwangsläufig leere Versprechungen, wenn keine Informationen über den Status quo als Referenzwert vorliegen. Ein Erfolg oder Misserfolg ist dann schlichtweg nicht messbar. Um die Einhaltung von Risikominderungsmaßnahmen im Rahmen des integrierten Pflanzenschutzes überprüfen zu können, müssten künftig außerdem auch Daten zur Indikation der durchgeführten Pestizidanwendungen erfasst werden.
Gerichtsurteilen zufolge steht der Zugang zu den Aufzeichnungen der Landwirt:innen ohnehin allen Bürger:innen zu: Es bedarf keines „berechtigten Interesses“, um eine entsprechende Umweltinformationsanfrage bei der zuständigen Landesbehörde zu stellen.
Bisher ist das in vielen Bundesländern trotzdem ein wenig aussichtsreiches und oft kostspieliges Unterfangen. Dabei besagt die EU-Umweltinformationsrichtlinie eindeutig, dass Behörden derartige Informationen so umfassend wie möglich öffentlich zugänglich machen und aktiv verbreiten sollen. Es ist also höchste Zeit, die Daten systematisch zu erfassen und niedrigschwellig zu veröffentlichen – nur so können Bürger:innen nachvollziehen, welchen Pestiziden sie ausgesetzt sind.
Positivbeispiel Kalifornien
Kalifornien macht vor, wie eine Lösung aussehen kann: Dort erfasst und veröffentlicht man die Pestizideinsätze bereits seit 1974 zentral. Der amerikanische Bundesstaat verfügt über ein Online-Kartentool, mit dem jede:r Bürger:in die Pestizideinsätze auf Äckern in der eigenen Nachbarschaft mit wenigen Klicks einsehen kann.
Diese Daten sind darüber hinaus ein Schatz für Umwelt- und Gesundheitswissenschaftler:innen weltweit: In zahlreichen Studien wurden und werden sie genutzt, um Zusammenhänge zwischen der Pestizidexposition und dem Rückgang der Biodiversität oder Gesundheitsgefahren aufzudecken.
Auch die kürzlich erfolgte Anerkennung von Parkinson als Berufskrankheit von deutschen Landwirt:innen beruht auf Studien, die mithilfe der kalifornischen Anwendungsdaten ein erhöhtes Parkinson-Risiko beim Kontakt mit Pestiziden festgestellt haben. Das zeigt: Es wäre auch im Interesse landwirtschaftlicher Arbeiter:innen, dass die Daten offengelegt werden.
Appell an die Agrarminister:innen
In einem offenen Brief anlässlich der Agrarministerkonferenz fordern wir die Agrarminister:innen der Länder nun zum wiederholten Male auf, ein bundesweit zentrales Register auf den Weg bringen, das alle Pestizidanwendungen in Deutschland anonym, aber parzellengenau offenlegt. Seit März 2023 berät eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe über die Erfassung von Pestizideinsätzen. Doch von Fortschritten ist nichts zu hören. Auch auf der Tagesordnung der morgen beginnenden Agrarministerkonferenz ist davon nichts zu finden. Dabei könnten der Wissenschaft mit so einem Register längst überfällige Daten für sinnvolle Risikoanalysen bereitgestellt und der Umweltinformationsfreiheit Genüge getan werden.
Auch Maßnahmen des integrierten Pflanzenschutzes und das Ausbringen von gebeiztem Saatgut müssen darin erfasst werden. Und natürlich sollen Bundesbehörden die gewonnenen Daten umfassend auswerten.
Nur Transparenz über Pestizidanwendungen ermöglicht es, ihre Gesundheits- und Umweltverträglichkeit zu prüfen, das Zulassungsverfahren anzupassen und eine Datengrundlage zu schaffen, auf deren Basis die notwendige Pestizidreduktion gemessen werden kann. Eine öffentlich zugängliche Datenbank wäre ein großer Schritt in Richtung einer nachhaltigeren und transparenteren Landwirtschaft in Deutschland.