Die Landwirtschaft steht an einem Wendepunkt: Folgt auf drei verlorene Ampel-Jahre eine Agrarpolitik mit den Konzepten von gestern, gerät die Geschäftsgrundlage für die Zukunft der Landwirtschaft immer weiter in Gefahr – und damit die Möglichkeiten eines guten Lebens für uns alle. Denn der Schutz unseres Planeten und seiner natürlichen Ressourcen dient dem Schutz unseres Wohlstands.
Jedoch hat der Präsident des Deutschen Bauernverbands Joachim Rukwied wenige Tage vor Eröffnung der Grünen Woche und zu Beginn der heißen Phase des Bundestagswahlkampfs einen „Neustart“ in der Agrarpolitik in die entgegengesetzte Richtung gefordert – mit weniger Vorgaben zum Schutz von Klima und Natur. Nach den Protesten vor einem Jahr verspürt der Bauernpräsident Rückenwind.
Mit dem Rückenwind aus den Umfragen segeln auch die Unionsparteien Richtung Bundestagswahl. Sie versprechen unter anderem eine schnellere Zulassung von Pestiziden und mehr Gentechnik in der Landwirtschaft. Und die CSU hat schon einen bayerischen Bauernverbandsfunktionär als nächsten Bundeslandwirtschaftsminister nominiert.
Die Vorfreude der CDU/CSU, nach den anstehenden Wahlen mit der Mehrheit im Bund und den mehrheitlich unionsgeführten Landesministerien agrarpolitisch durchregieren zu können, trifft auf eine SPD, die nie ein besonderes Interesse an der Landwirtschaft gezeigt hat, auf eine FDP, die in der Ampel agrarpolitisch lediglich als Blockiererin aufgefallen ist, und auf mutlose Grüne, die mit Cem Özdemir an der Spitze des Landwirtschaftsministeriums ihren Gestaltungswillen weitgehend verloren haben.
Vorfreude auf die Agrarpolitik nach der Wahl könnte schnell enttäuscht werden
Gute Nachrichten also für die Bäuerinnen und Bauern, die auf ihren Betrieben dem anhaltenden wirtschaftlichen Druck standhalten müssen, während das seit Jahren voranschreitende Höfesterben ungebremst weitergeht?
Wer sich jetzt darauf freut, dass nun endlich die Ärgernisse abgeräumt werden, die viele Landwirtinnen und Landwirte zu den Protesten des vergangenen Jahres getrieben haben, könnte schon bald enttäuscht werden. Denn ein Wechsel zurück zu den Schwesterparteien, die bis 2021 viele Jahre lang das Bundeslandwirtschaftsministerium geführt haben, ist nach den Erfahrungen mit CDU und CSU in politischer Verantwortung alles andere als ein Garant für eine vorausschauende Agrarpolitik, die der Landwirtschaft verlässliche Rahmenbedingungen bietet.
In bäuerlichen Familienbetrieben wird in Generationen gedacht. Dort weiß man, dass nur intakte Ökosysteme die Leistungen bringen, die es braucht, um die ökonomische Basis der Landwirtschaft langfristig zu sichern. Das wird aber nicht gelingen mit einer Politik, die eher darauf setzt, wie beim Agrardiesel klimaschädliche fossile Kraftstoffe weiter zu subventionieren, statt den Einsatz von Bäuerinnen und Bauern einkommenswirksam zu honorieren, die mit ihrer Arbeit dazu beitragen, die Klimakrise abzumildern und die Artenvielfalt zu bewahren.
Die Erhaltung der Artenvielfalt sichert die Versorgung mit Lebensmitteln
Die in den vergangenen Monaten gelungenen Versuche, Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität auf dem Land abzuwenden, sind nicht geeignet, um die Zukunft der bäuerlichen Betriebe in Deutschland und Europa zu sichern – auch wenn Bauernverband, Union und Europäische Volkspartei im EU-Parlament sie als politische Erfolge feiern. Denn nur eine Landwirtschaft, die ausreichend Raum lässt für Renaturierung, Naturschutz und damit die Erhaltung der Artenvielfalt in der Kulturlandschaft, kann einen nachhaltigen und zukunftssicheren Beitrag zur Versorgung mit ausreichend gesunden Lebensmitteln leisten.
Gegen „Ideologie“ und „Bürokratie“ wettern die Vertreterinnen und Vertreter der Agrarlobby besonders gern. Doch wenn sie mit diesen Schlagwörtern Stimmung machen, geht es ihnen meist weniger um weltanschauliche Fragen, sondern darum, Regeln zum Schutz von Klima, Natur oder Tieren abzuräumen. Es geht ihnen nicht um intelligente Lösungen, die den überbordenden Verwaltungsaufwand begrenzen, der gerade die kleinen und mittleren Betriebe erdrückt – sondern vor allem darum, kurzfristige Geschäftsinteressen der Agrar- und Lebensmittelindustrie durchzusetzen.
Die Verbandsarbeit der vergangenen Jahre hat ebenso wie die langjährig unionsgeführte Landwirtschaftspolitik wenig dazu beigetragen, kleine und mittlere Höfe aus der ökonomischen Schraubzwinge zu befreien. Bäuerinnen und Bauern warten weiterhin auf eine faire Bezahlung und verlässliche ökonomische Perspektiven. „Wachse oder weiche“ lautet die Ideologie der Agrarlobby, die eine unmissverständliche Absage an die Bewahrung der Vielfalt auf dem Lande ist.
Bäuerliche Existenzen durch ökologische Krise besonders gefährdet
Der wirtschaftliche Druck auf die bäuerlichen Betriebe dürfte so kaum nachlassen, während wertvolle Zeit verstreicht, um die größer werdenden Herausforderungen durch mehr Überschwemmungen, längere Dürreperioden, schwindende Artenvielfalt oder Degradation der Böden zu bewältigen.
Je später wir uns auf die unvermeidlichen Veränderungen einstellen, desto weniger können wir unsere Lebensgrundlagen und unseren Wohlstand schützen. Das gilt nicht nur für Bäuerinnen und Bauern. Aber sie gehören zu den Ersten, deren wirtschaftliche Existenzen in Gefahr geraten.
Das ist keine ideologische Frage, sondern hier gelten naturwissenschaftliche Gesetze. Diese unbequeme Wahrheit treibt manche Menschen in die Arme von realitätsfernen Populisten, die sie mit der trügerischen Illusion locken, es könne wieder alles so werden, wie es mal war.
Bei immer mehr Menschen wächst zugleich die Erkenntnis und die Bereitschaft, das eigene Verhalten zu überdenken und andere Konsumentscheidungen zu treffen. So ist der Überkonsum von Fleisch in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen. Laut einer aktuellen Umfrage im Auftrag von Greenpeace sehen es die Befragten als wichtigste Aufgabe der neuen Bundeslandwirtschaftsministerin oder des -ministers an, sich dafür einzusetzen, dass klima- und umweltverträglich erzeugte Lebensmittel günstiger werden.
Nur acht Prozent der Befragten sprechen sich dafür aus, dass an der Spitze des Ministeriums die Vertretung der Interessen von Landwirtinnen und Landwirten Vorrang haben sollte – die übergroße Mehrheit fordert eine gleichrangige oder vorrangige Behandlung von Verbraucherinteressen.
Das Landwirtschaft- und Ernährungssystem richtet Milliardenschäden an
Noch können sich Bäuerinnen und Bauern darauf verlassen, dass ihnen von der großen Mehrheit der Bundesbürger:innen viel Respekt dafür entgegengebracht wird, wie sie mit täglicher harter Arbeit unsere Lebensmittelversorgung sichern. Das hat erst kürzlich wieder eine Eurobarometer-Umfrage gezeigt. Das große Engagement auf vielen Höfen für Anbau im Einklang mit der Natur und eine tiergerechte Haltung erfährt zusätzliche Wertschätzung.
Doch das Landwirtschafts- und Ernährungssystem hat einen hohen Preis, für den wir nicht nur als Verbraucherinnen und Verbraucher beim Kauf von Lebensmitteln an der Supermarktkasse zahlen. Zusätzlich kommen die Steuerzahlenden für Agrarsubventionen in Milliardenhöhe auf, die bei den landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetrieben im Schnitt die Hälfte der Einnahmen ausmachen und von denen bislang vor allem Großbetriebe mit viel Fläche profitieren. Und schließlich richtet dieses System gesellschaftliche Schäden in Milliardenhöhe durch sogenannte externalisierte Kosten an. Die entstehen etwa durch die Belastung von Gewässern und Grundwasser durch Überdüngung oder die Zerstörung wertvoller Ökosysteme durch Pestizide.
Eine Agrar- und Ernährungswende hin zu einer klima- und umweltverträglichen Landwirtschaft, die uns zu fairen Preisen mit gesunden Lebensmitteln versorgt, kann nur gelingen, wenn wir sie gemeinsam als Verbraucherinnen und Verbraucher und mit den Bäuerinnen und Bauern einfordern. Wenn für die öffentlichen Fördermittel, die Steuerzahlende finanzieren, gesellschaftliche Leistungen erbracht und nicht ökologische Schäden angerichtet und natürliche Ressourcen zerstört werden. Wenn die bäuerlichen Erzeuger:innen für ihre Leistungen einkommenswirksam entlohnt werden und nicht länger unter nicht kostendeckenden Erzeugerpreisen leiden, während Lebensmittel- und Einzelhandelskonzerne ihre Marktmacht nutzen, um ihre Gewinne zu maximieren.
Lösungsvorschläge liegen längst auf dem Tisch
Es ist also höchste Zeit für eine echte Zeitenwende in der Agrarpolitik. Die werden Bäuerinnen und Bauern gemeinsam mit einem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis und tausenden Menschen am kommenden Samstag bei der „Wir haben es satt“-Demonstration in Berlin einfordern. Lösungsvorschläge liegen längst auf dem Tisch, vorgelegt von Kommissionen mit gesammelter Expertise und breitem gesellschaftlichen Rückhalt ebenso wie aus der Wissenschaft, ohne dass die Umsetzung bislang vorankommt.
Zeitenwende heißt auch: Es ist höchste Zeit zu erkennen, dass wir gemeinsame Interessen haben. Der Schutz unseres Planeten und seiner natürlichen Ressourcen ist der Schutz unseres Wohlstands – für ein Leben in Sicherheit und Freiheit. Dafür müssen wir jetzt an einem Strang ziehen, statt scheinbare Gegensätze aufzubauen und populistischen Polarisierern das Feld zu überlassen.
Matthias Lambrecht ist politischer Campaigner im Team Agrarwende von Greenpeace Deutschland