In Zeiten von Corona läuft das Leben auch an den Universitäten nicht wie gewohnt. Präsenzunterricht ist kaum möglich, das Austeilen von Lehrmaterialien und der Kontakt mit den Studierenden schwierig. Unterstützung schafft das „Integrierte Lern-, Informations- und Arbeitskooperations-System“ Ilias. Die Lernplattform wurde Ende der 90er Jahren an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät in Köln entwickelt. Ohne den Politikprofessor Wolfgang Leidhold wäre sie wohl nie entstanden.
Auf Umwegen zu Informatik-Grundlagen
Leidhold, Jahrgang 1950, wollte immer schon Professor werden. „Der Lebensentwurf eines Wissenschaftlers an der Universität hat mir immer gefallen“, sagt er. Die Wissenschaft sei neben der Malerei eine alte Familientradition, immer eines seiner großen Interessensfelder gewesen. Obwohl er sich für Naturwissenschaften interessiert habe, sei er schließlich bei der Politikwissenschaft gelandet. Dort seien ihm die Menschen sympathisch gewesen und für einen Naturwissenschaftler sei er im Rechnen zu langsam, erzählt Leidhold.
Seine wissenschaftliche Arbeit brachte Leidhold in zahlreiche Städte und Länder: von Bochum nach Stanford und Erlangen, an die Georgetown-Universität, nach Hawaii und Neuseeland. In den 80er Jahren forschte er zu Sicherheitspolitik im Südpazifik. „Das war eines der interessantesten Abenteuerprojekte meines Lebens.“
Überhaupt sei er immer auf explorative Projekte aus, sagt Leidhold. „Die meisten Menschen wollen sich zum absoluten Experten in einem Gebiet machen und darin unschlagbar werden. Wenn ich etwas verstanden habe, dann will ich auf zu neuen Ufern. Das war schon immer so.“ Eines der neuen Ufer war das Programmieren, das er zufällig gelernt habe. „Anfang der 80er Jahre hat ein Kollege, der Informatiker war, an der Universität Erlangen einen Kurs für Anfänger gegeben, da habe ich Unix und Fortran 77 gelernt.“
Vom Politikwissenschaftler zum Lernplattform-EntwicklerVon Erlangen kam Leidhold 1992 nach Köln, wo er noch heute Professor für Politische Theorie ist. Damals hätten sich alle für das Internet interessiert, für Kommunikation und Kommunikationsstrukturen, sagt Leidhold. In einer Fakultätssitzung habe der Dekan dann erzählt, dass die Bertelsmann- und die Nixdorf-Stiftung Internet-Anwendungen an der Universität fördern wollen. „Aber an unserer Fakultät wollte niemand an der Ausschreibung teilnehmen. Da habe ich gesagt, ich würde es probieren.“ Trotz anfänglicher Bedenken seiner Kollegen – schließlich ist Leidhold kein Informatiker – machte er sich an die Entwicklung einer Lernplattform. Die Menschen hätten das Internet damals zwar schon genutzt, sagt Leidhold. Aber hauptsächlich, „um E-Mails zu verschicken. Niemand hat Lehrinhalte über das Internet bereitgestellt“.
Mit seinen Kenntnissen und zwei Informatik-Studenten habe er dann einen Dummy gebaut, wie er ihn sich vorstellte, „mit einer Benutzeroberfläche und einem Content Management System dahinter.“ Damals seien fast alle Webseiten noch in HTML gebaut worden. Doch dann hätte man mit jedem neuen Inhalt auch den Code ändern müssen. Die Kölner-Lösung sei damals sehr innovativ gewesen. „Die meisten haben geglaubt, dass die Universität eine viel zu schwerfällige Umgebung ist, um so eine innovative Anwendung zu entwickeln“, sagt Leidhold. Aber: „Wenn jemand zu mir sagt, dass ich etwas nicht könne, dann bin ich erst recht interessiert.“
Viele Hochschulen des öffentlichen Dienstes nutzen IliasDen Dummy stellte Leidhold dann auf einer Tagung vor, bei der ein Ministeriumsvertreter auf ihn zukam und ihm Restmittel anbot, die er Ende des Jahres noch ausgeben wollte. „So haben wir noch die Zusatzmittel bekommen, um Ilias programmieren zu können.“
Heute ist Ilias eine Open-Source-Software, die auf der ganzen Welt genutzt wird. 71 Lerneinrichtungen weltweit gehören zu den registrierten Mitgliedern der Community, die aktiv an der Weiterentwicklung von Ilias mitwirken. Das Tool wird unter anderem an Universitäten in Hannover, Halle und Köln eingesetzt. Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft digitale Lehre an den Hochschulen für den öffentlichen Dienst nutzt Ilias. Ihr gehören unter anderem die Bundesfinanzakademie im Bundesministerium der Finanzen, die Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung und Ländereinrichtungen wie die Hochschule für Polizei Baden Württemberg oder die Bayerische Bereitschaftspolizei an.
Wie viele Menschen Ilias wirklich nutzen, lässt sich nicht sagen. Die Downloads liegen im fünf- bis sechsstelligen Bereich, sagt Leidhold. „Auf der Basis von Ilias sind auch schon viele kommerzielle Anwendungen entstanden. Manche Unternehmen zum Beispiel nutzen das System, um Inhalte anzubieten, andere helfen beim Start als Dienstleister.“
Seit 2009 wird Ilias von einem gemeinnützigen Verein betreut und weiterentwickelt. „Wir haben uns entschlossen, mit einem gemeinnützigen Verein einen Kurs zu setzen, wonach die Community Ilias weiterentwickeln soll“, sagt Leidhold. „Ein gewinnorientiertes Unternehmen wäre eine andere Möglichkeit gewesen, aber das hat mich nicht interessiert. Ich finde es sehr reizvoll, eine Innovation zu entwickeln. Aber dann daraus eine Firma zu entwickeln, ist nicht mein Ding.“
Leidhold selbst ist dem Verein noch freundschaftlich verbunden, hat sich aber 2003 wieder auf zu neuen Ufern gemacht – um sich seinem zweiten großen Interesse, der Malerei, zu widmen. Auch das mit Erfolg: Seine Arbeiten wurden unter anderem in New York ausgestellt und sind auf Instagram zu finden. Katharina Schneider
Drei Fragen an Wolfgang Leidhold:
1) Welche Innovation wünschen Sie sich?
Eine Zeitmaschine. Ich würde gerne wissen, wieso unsere Vorfahren Höhlen bemalt haben. Das würde mir für mein neues Buch „The History of Experience“, das kommendes Jahr erscheint, sehr helfen. Da geht es um die Geschichte von Erfahrung und wie sich die Erfahrung in ihrer Struktur seit der Altsteinzeit in neun Schüben gewandelt hat.
2) Wer aus der Digitalszene hat Sie beeindruckt?
Steve Jobs. Ich war von Anfang an ein Apple-Fan und das hat mich auch für den Dummy von Ilias inspiriert.
3) Als Digitalminister würde ich…
…den Job nur annehmen, wenn ich für Innovationen genug Geld und freie Hand hätte, um Inkubatoren zu starten. Und ich will dann an dem einen oder anderen Projekt selbst mitwirken.