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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Am Ende der vollen Kassen beginnt die Zukunft der Versorgung

Lutz Hager, Vorstand des Bundesverbands Managed Care (BMC)
Lutz Hager, Vorstand des Bundesverbands Managed Care (BMC) Foto: Konrad Gös

So wie es ist, kann es nicht bleiben, sagt BMC-Vorstand Lutz Hager. In seinem Standpunkt fordert er eine Modernisierung der Gesundheitsversorgung und gibt dem Bundesgesundheitsministerium Handlungsempfehlungen für das kommende Jahr mit: weniger Ballast und Fehlsteuerung, dafür mehr Freiheiten.

von Lutz Hager

veröffentlicht am 20.12.2023

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Am Ende dieses gesundheitspolitischen Jahres bleiben die Glocken still: die angekündigte „Revolution“ in der Krankenhausversorgung steht noch an der Bahnsteigkante, die Finanzierung der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung steckt im unzureichenden Status quo und Reformen in der ambulanten Versorgung sowie im Berufsrecht sind lediglich angekündigt. Allein die Digital- und Datennutzungsgesetze senden hoffnungsvolle Töne. Derweil „brennt der Tannenbaum“ an allen Ecken: Kliniken, Praxen, Apotheken, Pflegeeinrichtungen sind am Limit – personell, finanziell und längst auch spürbar für die Patientinnen und Patienten. So, wie es ist, kann es nicht bleiben.

Eine überfällige Modernisierung

Eine umfassende und überfällige Modernisierung der Gesundheitsversorgung umfasst drei Ebenen: Erstens werden Arbeitsabläufe durch volle Nutzung der Möglichkeiten von Digitalisierung, Automatisierung und besserer Aufgabenverteilung neu erfunden, nicht nur innerhalb und zwischen den Einrichtungen, sondern künftig auch wirklich unter aktiver Einbeziehung der Patient:innen.

Zweitens werden Einzelkämpfer zu Teamspielern in größeren Einheiten, Verbünden und ambulant-stationären Netzen mit koordinierten Behandlungswegen, die etwa die Möglichkeiten der Ambulantisierung, häuslichen Pflege und Vermeidung von Krankenhausaufenthalten voll ausschöpfen.

Drittens – und hier liegt der Schlüssel zu einer zukunftsfähigen Transformation – werden Vergütungsinstrumente und Entscheidungsstrukturen so umgestaltet, dass sie Koordinierung, Patientenorientierung und Gesunderhaltung fördern, gerade auch angesichts sozialer Unterschiede. Dieser Dreiklang ermöglicht eine Produktivitätssteigerung hin zu „mehr Gesundheit“, die jedem individuell und dem Gemeinwesen insgesamt vielfach zugutekommt. Oder anders gewendet: nur so schaffen wir es im Lichte des demografischen Wandels.

Ein Wendepunkt für die Gesundheitspolitik

Diese Modernisierung gelingt nicht mit strukturkonservativer Gesundheitspolitik im Weiter-so-Modus. Die vollen Kassen der letzten Jahre haben eine falsche Illusion genährt. Diese Zeit ist nun vorbei: Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVG) stehen auf absehbare Zeit keine zusätzlichen Mittel zur Verfügung, die Sozialabgabenquote hat die 40 Prozent bereits komfortabel überschritten. Das BVG-Urteil markiert daher einen Wendepunkt für die Gesundheitspolitik, der auch die detail- und konfliktbeladene Vorhabenliste des Bundesgesundheitsministeriums erreichen muss.

Je detaillierter, ja geradezu besserwisserischer die Regulierung, desto geringer die Handlungsmöglichkeiten und desto härter der Kampf der Interessen – eine Spirale des Misslingens. Dies betrifft auch und gerade das Schwarze Loch Krankenhausreform, das nicht nur aktuell alle Energie bindet, sondern durch neue, komplizierte Verteilmechanismen auf Jahre Unsicherheiten und neue Unwuchten schafft.

Die Politik muss dringend vom Ankündigungs- in den Erledigungsmodus umschalten und dabei das Wichtigste in den Blick nehmen: die Lösungskompetenz der Beteiligten im Gesundheitswesen. Nur so ist diese Legislatur noch für die Gesundheitspolitik zu retten.

Es braucht drei handlungsleitende Prinzipien:

  1. Ballast abwerfen: Auf große Teile der Krankenhausreform kann verzichtet werden, entscheidend ist eine zukunftsfähige Ausrichtung durch Schwerpunktbildungen. Zusätzliche Regulierungen (zum Beispiel bei Medizinischen Versorgungszentren) gehen am Kern unserer Herausforderungen vorbei. Die Disease-Management-Programme benötigen einen Neustart.
  2. Fehlsteuerungen abbauen: Fehlanreize und Ineffizienzen wie etwa durch den Quartalsbezug im Einheitlichen Bewertungsmaßstab und unterschiedliche Vergütungssätze für Operationen müssen abgeschafft, Versorgungsaufgaben zwischen Ärzten und Gesundheitsfachberufen entlang von Kompetenz in abgeleiteten Arbeitsbereichen neu verteilt werden. Telemedizin braucht nicht für jede Indikation eigene Bewertungen, sondern muss prinzipiell gleichberechtigt mit einer vor-Ort-Behandlung erfolgen können. Das Zulassungsrecht gehört liberalisiert, zum Beispiel um den flexiblen Einsatz von Ärzten in unterversorgten Regionen und Primärversorgungszentren zu ermöglichen.
  3. Freiheitsgrade schaffen: Regionale Selbstorganisation ist die konkrete Utopie der Gesundheitsversorgung und setzt neue Kräfte frei. Vor Ort treten integrierte Versorgungslösungen und  -verträge an die Stelle sektoralen Denkens und Handelns. Regionen brauchen einen verbindlichen Handlungsrahmen und die Freiheit, für ihre spezifischen Bedarfe und Strukturen eigene und individuelle Lösungen zu finden.

Zukunft wird aus Mut gemacht – und aus unternehmerischer Initiative. Wenn die Richtung stimmt, kann das Gesundheitswesen selbst Ressourcen umstellen und dabei die Menschen besser mitnehmen als durch Vorgaben. Dieses Vertrauen in eine leistungsfähige Gesundheitsversorgung ist einer der Eckpfeiler unseres solidarischen Gesellschaftsvertrags. Es ist Zeit, die Bundesregierung daran zu erinnern.

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