Impfen ist der Ausweg aus der Corona-Pandemie. Was im Dezember langsam begonnen hat, nimmt mehr und mehr Fahrt auf. Kürzlich wurden mehr als 700.000 Menschen an einem Tag geimpft – Tendenz steigend. Über dieser unglaublichen Erfolgsgeschichte, die als eine Sternstunde von Wissenschaft und Forschung sowie der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung gesehen werden muss, liegt ein künstlicher herbeigeredeter Streit. Hinter den Kulissen wird um die Verteilung des Impfstoffs gerangelt – mit negativen Auswirkungen auf die so wichtige Kommunikation in dieser Pandemie.
Um es klar und deutlich zu sagen: Mittlerweile wird in Deutschland nicht nur in Impfzentren geimpft, sondern auch in zehntausenden niedergelassenen Arztpraxen. Nicht nur bei Hausärzten, sondern auch bei Gynäkologen, HNO-Ärzten oder Dermatologen. Dieser Umstand muss betont werden, weil viele Menschen davon schlichtweg nichts wissen und die politische und mediale Kommunikation an dieser Stelle versagt. Dabei ist das geduldige Erklären in der Pandemie ein Schlüsselwerkzeug. Nur wenn wir es schaffen, komplexe Zusammenhänge möglichst vielen Menschen verständlich zu machen, werden wir den Spuk aus zigtausenden Corona-Toten, überfüllten Intensivstationen und wirtschaftlichem Niedergang bald hinter uns lassen. Ein Beispiel ist der weit überwiegende Vorteil einer Impfung gegenüber der Gefahr, eine seltene Nebenwirkung zu erleiden. Den Menschen diese Angst zu nehmen, liegt in der Verantwortung aller Beteiligten aus Wissenschaft, Politik, Ärzteschaft und Medien.
Strukturen beibehalten und ausbauen
Die Erfolgsgeschichte der Impfkampagne wird vom Streit über die Verteilung des Impfstoffes zwischen Impfzentren und Arztpraxen überschattet. Die einen wollen die Impfzentren aus Kostengründen schließen. Andere beanspruchen den kompletten Impfstoff für sich. Dies ist sehr bedauerlich und für den Erfolg der Kampagne kontraproduktiv. So lange es begrenzte Liefermengen an Impfstoff gibt, muss die verfügbare Menge zwischen Impfzentren und Arztpraxen aufgeteilt werden. In wenigen Wochen werden so viele Dosen verfügbar sein, dass der Streit lächerlich anmuten wird. Zudem wurde der Zwist künstlich aufgebauscht und wird vom Miteinander der Ärztinnen und Ärzte in Impfzentren, Haus- und Facharztpraxen widerlegt.
Es gibt gute, praktische Gründe, in den nächsten Wochen alle geschaffenen Impfstrukturen weiter zu betreiben und sogar noch auszubauen. Wenn wir in Deutschland sieben, acht oder im Juli sogar neun Millionen Impfdosen pro Woche geliefert bekommen, werden wir jede Ärztin und jeden Arzt dringend für die Bewältigung der Impfstoffmenge brauchen.
Den Rotstift zur Seite legen
Der Kern des Streits um den Impfstoff liegt jedoch tiefer. Im Gesundheitswesen wird seit Jahrzehnten an vielen Ecken gespart – zu viel gespart, wie sich spätestens jetzt zeigt. Es sind nicht nur die Pflegefachkräfte in den Krankenhäusern und Betreuungseinrichtungen, die im Sturm der Pandemie schon beinahe um Hilfe betteln müssen. Auch im Bereich der ambulanten Versorgung regiert seit den 1990er Jahren der Rotstift. Dass unsere Patientenversorgung insgesamt dennoch so gut dasteht, ist zu einem großen Teil dem Einsatz der Ärztinnen und Ärzte, den Pflegerinnen und Pflegern und den medizinischen Fachangestellten geschuldet.
Zwar wird von den Sparverantwortlichen oft auf die steigenden Gesundheitsausgaben hingewiesen. Die Rechnung geht jedoch an vielen Stellen nicht auf, denn noch stärker als die Kosten steigen die medizinischen Möglichkeiten und auch die Wünsche nach optimaler Gesundheitsversorgung von uns allen. Dieses Problem in unserem solidarischen Gemeinwesen zu lösen, ist eine Herkulesaufgabe. Gleichzeitig hat die Unterfinanzierung zu einer ungesunden Lagerbildung zwischen Versorgungsbereichen und Fachgruppen geführt – die sich nun auch wieder einmal im Gerangel um den Impfstoff widerspiegelt.
Keine Konkurrenz zwischen Impfzentren und Arztpraxen
Doch eine globale Herausforderung wie die Corona-Pandemie kann nur in einem gemeinsamen Kraftakt von uns allen bewältigt werden. Jeder trägt Verantwortung. Es ist nicht die Zeit für Partikularinteressen. Zurück auf die Impfkampagne übersetzt heißt das konkret, dass alle verfügbaren Kräfte mobilisiert werden müssen. Es müssen klare Botschaften an die Menschen gehen. Es müssen Sorgen und Ängste genommen und Strukturen aufgebaut werden. Wer jetzt nur an seinen eigenen Vorteil denkt, handelt unverantwortlich. Es gibt keine Konkurrenz zwischen Impfzentren und Arztpraxen. Genauso wenig gibt es einen Konflikt zwischen Haus- und Fachärzten. Wir brauchen alle Kräfte, um die Impfkampagne erfolgreich fortsetzen zu können. Alle anderweitigen Äußerungen, dieser oder jener könne schneller, mehr oder besser gegen das Virus impfen, verunsichern letztlich die Menschen und bremsen die Pandemiebekämpfung an einer höchst empfindlichen Stelle.
Mittlerweile ist das Vakzin von AstraZeneca in einigen Bundesländern von der Priorisierung ausgenommen. Jeder, auch jüngere Menschen unter 60 Jahren, kann sich damit impfen lassen. Schon bald wird auch die Altersbeschränkung für die anderen Impfstoffe fallen. Deshalb der dringende Appell an die Menschen, sich jetzt impfen zu lassen: Ratsam ist es, sich bei seinem Haus- oder Facharzt nach einem Termin zu erkundigen – am besten per E-Mail, weil der Ansturm von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Praxen so im Moment besser zu bewältigen ist. In vielen Praxen werden derzeit gesonderte Impfsprechstunden zur Mittagszeit, abends oder am Wochenende eingerichtet. Praxismitarbeiterinnen und -mitarbeiter werden geschult, Warteräume und Terminvereinbarungslösungen eingerichtet. Es fehlt nur noch ausreichend Impfstoff. Aber der wird schon bald kommen.
Dr. Dirk Heinrich ist niedergelassener HNO-Arzt und leitet derzeit das Hamburger Impfzentrum in den Messehallen. Er ist unter anderem Vorstandsvorsitzender des Spitzenverbands der Fachärzte Deutschland, Präsident des Deutschen Berufsverbandes der Hals-Nasen-Ohrenärzte und Bundesvorsitzender des NAV-Virchow-Bundes.