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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Blackbox Hilfsmittelversorgung

Alf Reuter ist Präsident des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT)
Alf Reuter ist Präsident des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT) Foto: BIV-OT/Chris Rausch

Zurzeit gleicht die Hilfsmittelversorgung einer Blackbox, meint Alf Reuter, Präsident des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT). Durch Intransparenz und Bürokratie wird das Potenzial, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, nicht ausgeschöpft.

von Alf Reuter

veröffentlicht am 14.05.2024

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Jeder Vierte gesetzlich Versicherte ist auf eine Hilfsmittelversorgung angewiesen, benötigt unter anderem Bandagen, Orthesen, Prothesen, medizinische Kompression oder orthopädische Einlagen. Diese Produkte sind aber nur ein Teil einer erfolgreichen Versorgung: Ohne das Personal, das sie qualifiziert versorgt, können sie ihr Potenzial nicht entfalten. Zum Beispiel ohne die rund 48.000 Beschäftigten in den vom Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) vertretenen Sanitätshäusern und orthopädietechnischen Betrieben, die mehr als 25 Millionen Hilfsmittelversorgungen pro Jahr in Deutschland verantworten. Sie passen die Prothese dem Körper und dem Bewegungsbild an, damit sie tatsächlich mobil macht. Auch ob eine orthopädische Einlage Leiden reduziert oder erst hervorbringt, liegt allein daran, ob und wie gut sie auf das individuelle Krankheitsbild abgestimmt ist. Die leitliniengerechte medizinische Kompression beim Lymphödem, einer chronischen Erkrankung, kann schwerwiegende Komplikationen wie Entzündungen samt langwieriger Wundversorgung verhindern – verlangt aber perfektes Vermessen sowie individuelles Abtasten. Eine „one-size-fits-all“-Lösung gibt es nicht.

Unsere Orthopädietechniker beispielsweise zählen mit drei Jahren Ausbildung, 2150 Stunden Weiterbildung und viel Erfahrung zu den Besten und setzen globale Maßstäbe bei konservativen – also nicht-operativen – Behandlungskonzepten. Nicht umsonst findet die OTWorld, Weltkongress und Weltleitmesse unserer Branche, in Leipzig statt. Von heute bis zum 17. Mai 2024 ist es wieder so weit. 

Die Leistung unserer Fachleute wird jedoch von den gesetzlichen Krankenkassen gern ausgeblendet und die Hilfsmittelversorgung häufig auf die Produktebene „heruntergeschraubt“, um sie nach dem Amazon-Prinzip am besten zum Billigpreis per Versand abzuwickeln. Die Politik macht dieses Spiel leider mit.

Vier Prozent der GKV-Ausgaben

Dabei handelt es sich in der Gesamtbetrachtung um sehr begrenzte Mittel, die für diesen Bereich aufgewendet werden: Gerade mal vier Prozent der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) flossen laut Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im vergangenen Jahr in die Hilfsmittelversorgung (Orthopädie-, Reha- und Medizintechnik sowie Homecare) – das waren knapp 9,38 Milliarden Euro von insgesamt rund 306,2 Milliarden Euro und 6,2 Prozent mehr als 2022. Etwa die Hälfte der Hilfsmittelausgaben entfallen auf Menschen über 65 Jahre, deren Zahl gestiegen ist und im Zuge des demografischen Wandels weiter steigen wird – und die andererseits immer länger im Arbeitsprozess bleiben wollen und sollen. Wachsender Bedarf, der immer schwerer abzudecken ist.

Seit Jahren gibt es weder eine kassenübergreifende noch eine wirtschaftliche Kostenerstattung. So wurden die Sanitätshäuser während der Corona-Pandemie zwar als systemrelevant anerkannt – eine Erstattung der explodierenden Kosten von Material, Rohstoffen und Logistik bis Energie und Inflationsauswirkungen wird für Kassenpatienten nicht vorgesehen. Die über mehrere Jahre abgeschlossenen Verträge bilden sprunghafte Preissteigerungen, wie wir sie in den letzten Jahren erlebt haben, nicht im Mindesten ab. Im Gegenteil, unsere Betriebe müssen sich für ihre Patienten über eigentlich gesetzlich klar geregelte Kostenübernahmen immer häufiger streiten.

Und obwohl die „Hauptsache billig“-Ausschreibungen in der GKV-Hilfsmittelversorgung bereits 2019 aufgrund des damit verbundenen Qualitätseinbruchs und entsprechenden Folgekosten durch den Gesetzgeber verboten wurden, hängen die Dumpingpreise von damals bis heute nach. Wie groß der Bedarf an Versorgungsleistungen ist, lässt sich am Fachkräftemangel ablesen: Unsere Betriebe können ihren Bedarf an endverantwortlichen Fachkräften bei Medizin-, Orthopädie- oder Rehatechnik nicht mehr decken. Auf 100 offene Stellen finden sich bundesweit lediglich 16 qualifizierte Arbeitssuchende. Wie viele Versorgungen da schon jetzt auf der Strecke bleiben, kann man sich denken. Unser Gesundheitshandwerk hat keinen goldenen Boden, nicht mal mehr einen blechernen, wenn das so weitergeht.

Keine Leit- oder Mantelverträge bedeuten Bürokratie

Vor dem Hintergrund dieses dramatischen Fachkräftemangels erlauben wir uns noch heute eine Politik, die den GKV-Versicherten den vollen Zugang zur Versorgung mit Fachkräften versperrt. Gesetzlich Versicherte können ihr Sanitätshaus – im Gegensatz zu ihrem Hausarzt – nicht einfach aussuchen. Je nachdem, wo er versichert ist, heißt es im Jahre 2024 in Deutschland: „Sie müssen draußen bleiben.“ Es fehlt ein Versorgungsvertrag, weil eine wirtschaftliche Kostenerstattung nicht mehr die Regel ist. Das hat längst die Aufsichtsbehörden der Krankenkassen alarmiert: Es gebe „zahlreiche Krankenkassen, die zu einzelnen Produktgruppen entweder mit keinem oder mit nur wenigen Leistungserbringern Verträge zur Hilfsmittelversorgung abgeschlossen haben“, so das Bundesamt für Soziale Sicherung in seinem Sonderbericht 2022 über die Qualität der Hilfsmittelversorgung.

Was die Bürokratie betrifft, so muss man sich nur folgende Zahlen ansehen: Der BIV-OT verwaltet rund 380.000 Versorgungsverträge, zwischen den Kostenträgern und einzelnen Sanitätshäusern – Leit- oder Mantelverträge wie in anderen Bereichen sind hier nicht zugelassen. Alle müssen regelmäßig von den Häusern ausgedruckt und per Post an die Krankenkasse geschickt werden. Die relevante Versorgungsdokumentation findet zusätzlich und für jede Kasse unterschiedlich auf Papier statt. Die Mehrheit der Sanitätshäuser und OT-Werkstätten geht davon aus, dass über 30 Prozent der Arbeitszeit für den Papierkrieg draufgeht. Ein trauriges Bild darüber, wie wenig unserer Gesellschaft die konservative Therapie von Arthrose bis hin zu Bandscheibenvorfällen und die technische Versorgung von schwerstbehinderten Menschen wert ist.

In der Hilfsmittelversorgung scheint der Politik außerdem eine Beschleunigung der Digitalisierung nicht so bedeutsam zu sein: Mit dem Digital-Gesetz (DigiG) wurde unser elektronisches Rezept, die E-Verordnung, auf 2027 und damit auf die lange Bank geschoben. Dabei sind wir vorbereitet, unser deutschlandweit größtes Pilotprojekt läuft längst. An eine KI, die die in den Papierbergen versteckte Patientendokumentation für eine effektive Versorgungsforschung auswerten könnte, ist nicht zu denken.

Intransparenz verhindert ehrliche Reformdebatte

Besonders die Intransparenz, in welche die gesetzlichen Krankenkassen unser Fach getrieben haben, verhindert eine ehrliche Reformdebatte. Die Kassen lehnen eine Zulassung, bei der alle Fachkräfte in der Versorgung genutzt werden könnten, und eine einfach zugängliche Veröffentlichung ihrer Vertragsinhalte nämlich ab. Damit ist die Hilfsmittelversorgung zur intransparenten Blackbox geworden – nicht nur für die Versicherten, sondern genauso für Ärzte, Politik und sogar für die Leistungserbringer. So kann die Regelversorgung von Kasse zu Kasse verschieden aussehen, obwohl alle Versicherten dasselbe Recht auf eine wohnortnahe Versorgung nach Stand der Technik haben und in etwa denselben Beitragssatz in die Solidargemeinschaft einzahlen. Zudem stehen Menschen mit Erkrankungen oder Behinderungen bei ihrem Sanitätshaus um die Ecke oft vor verschlossener Tür. Denn nicht jeder, der dies könnte, darf versorgen. Hat das wohnortnahe Sanitätshaus keinen Vertrag mit der jeweiligen Krankenkasse, muss es die Hilfsmittelversorgung ablehnen – und die Versicherten haben deutlich längere Wege oder müssen sich mit einer Versorgung per Hotline und Versand begnügen. Stellen Sie sich so etwas bei ärztlichen Praxen oder Apotheken vor!

Eine Reform der Hilfsmittelversorgung in Deutschland ist dringend nötig. Unser Fach hat Vorschläge vorgelegt, unter anderem mithilfe bundesweit geltender Leitverträge sowie verpflichtender Zulassung zur Versorgung bei entsprechender Qualifikation die Lage zu entspannen. Damit Versicherte wieder wissen, was ihnen zusteht und die Angebote der Kassen vergleichen können. Unser Fach trägt große Verantwortung für eine Hilfsmittelversorgung, die ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein muss. Aber nicht billig.

Alf Reuter ist Präsident des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik (BIV-OT) und Vorstandsmitglied des Bündnisses „Wir versorgen Deutschland“ (WvD).

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