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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Dringender Handlungsbedarf für mehr Selbstbestimmung und Lebensqualität

Christiana Hennemann, Geschäftsführerin von rehaKIND
Christiana Hennemann, Geschäftsführerin von rehaKIND Foto: privat

Über 7,9 Millionen Menschen mit schweren Behinderungen und 4,3 Millionen Menschen in ambulanter Pflege sind auf funktionierende, schnell zugängliche Hilfsmittel angewiesen. Doch veraltete Strukturen, bürokratische Hürden und ein Mangel an Fachkräften erschweren den Zugang zu lebensnotwendigen Hilfsmitteln und machen den Alltag für viele Betroffene zu einem Hindernislauf, kritisiert Christiana Hennemann, Geschäftsführerin von rehaKIND, im Standpunkt.

von Christiana Hennemann

veröffentlicht am 23.09.2024

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Die adäquate Versorgung mit Hilfsmitteln ist nicht nur ein zentraler Baustein für ein selbstbestimmtes Leben, sie ist laut UN-Behindertenrechtskonvention ein Menschenrecht – und betrifft uns alle. Ein Blick auf unsere alternde Gesellschaft und die steigende Zahl an pflegebedürftigen Menschen zeigt: Eine Reform des Hilfsmittelsystems ist dringend notwendig – und zwar jetzt.

Gemeinsam mit führenden Fachverbänden der Branche haben wir einen offenen Brief an die Bundesminister Karl Lauterbach und Hubertus Heil sowie an die Abgeordneten des Deutschen Bundestagsverfasst, in dem wir auf die drängenden Probleme der Hilfsmittelversorgung aufmerksam machen. Der Brief wird im Rahmen der heutigen Eröffnungspressekonferenz zum Start der Rehacare veröffentlicht.

Ein System am Limit

Ein zentrales Problem in der aktuellen Hilfsmittelversorgung ist der deutliche Rückstand der politischen Regulierung gegenüber den technologischen Fortschritten. Während die Medizintechnikbranche bereits innovative, deutlich verbesserte Hilfsmittel entwickelt hat, bleibt deren Einsatz in der Praxis oft verwehrt. Viele der bereits verfügbaren Lösungen sind noch nicht im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt, was bedeutet, dass Betroffene keinen Zugang zu eben diesen erhalten.

Aktuell verzeichnete der GKV-Spitzenverband im Jahr 2023 32 Millionen Versorgungsfälle. Doch trotz der steigenden Nachfrage sinkt die Zahl der ausgebildeten Fachkräfte, die die Versorgung sicherstellen können. Gleichzeitig wird das System durch Hunderte von individuellen Verträgen der Krankenkassen verkompliziert, was den Prozess für alle professionell Beteiligten, aber auch für Patienten und Angehörige undurchsichtig und langsam macht. Der daraus resultierende bürokratische Aufwand führt zu Verzögerungen, Unsicherheiten und unnötigen Kosten – alles zulasten derer, die dringend auf Hilfe angewiesen sind.

Eine Investition in die Zukunft

Eine leistungsstarke Hilfsmittelversorgung ist nicht nur eine ethische Verpflichtung, sondern auch eine Investition in die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Menschen mit Behinderung und ältere Menschen erhalten durch die richtige Versorgung die Möglichkeit auf ein aktives, selbstbestimmtes Leben. Dadurch können sie weiterhin am gesellschaftlichen und beruflichen Leben teilhaben und in Würde altern. Gleichzeitig hilft eine funktionierende Versorgung dabei, die Dauer von Krankenhausaufenthalten zu reduzieren und teure operative Eingriffe zu vermeiden. Bei Kindern und jungen Menschen verhindert oder verzögert sie Pflegebedürftigkeit. Kurz gesagt: Eine gute Hilfsmittelversorgung entlastet das Gesundheitssystem und rechnet sich langfristig volkswirtschaftlich.

Doch die Realität sieht anders aus. Immer häufiger kommt es zu Engpässen, Patienten werden nicht rechtzeitig oder nicht ausreichend mit den benötigten Hilfsmitteln versorgt. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf ihre Lebensqualität, sondern auch auf die ambulante Pflege. Denn ohne die passenden Hilfsmittel steigt der Pflegeaufwand, und die Betroffenen sind schneller auf stationäre Lösungen angewiesen, die um ein Vielfaches teurer sind als die ambulante Versorgung.

Fünf Handlungsfelder für eine bessere Versorgung

Damit das deutsche Hilfsmittelsystem auch in Zukunft seine Rolle als internationaler Vorreiter behalten kann, ist eine grundlegende Reform erforderlich. In unserem offenen Brief fordern wir gezielte Maßnahmen, um die Hilfsmittelversorgung zukunftssicher zu machen. Dabei gibt es fünf zentrale Handlungsfelder:

  1. Stärkung der ambulanten Hilfsmittelversorgung: Ambulante Lösungen sind in den meisten Fällen kostengünstiger und fördern die Selbstständigkeit der Patienten. Diese müssen bedarfsorientiert gefördert und erstattet werden.
  2. Fachkräfte optimal einbinden: Der Fachkräftemangel ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Alle verfügbaren Fachkräfte müssen besser in die Versorgung integriert werden. Dafür ist es wichtig, die Finanzierung von Leistungen an der Qualifikation des Fachpersonals und nicht an bürokratischen Zuständigkeiten auszurichten.
  3. Digitalisierung vorantreiben: Die Möglichkeiten der Digitalisierung können genutzt werden, um Hürden abzubauen und Hilfsmittel schneller bereitzustellen. Gesetzliche Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden, um die Digitalisierung zu nutzen und die Leistungen effizienter ins Versorgungsmanagement zu integrieren.
  4. Entbürokratisierung des Systems: Das Vertragswesen der Krankenkassen muss dringend verschlankt werden. Einheitliche Verträge auf Basis gesetzlich definierter Standards könnten die Versorgung deutlich vereinfachen und gleichzeitig die Autonomie der Vertragspartner wahren.
  5. Hilfsmittelversorgung als Grundpfeiler der Gesundheitsversorgung: Die Versorgung mit Hilfsmitteln erfordert medizinisch-technische Expertise, die in enger Zusammenarbeit mit Ärzten und Therapeuten erbracht wird. Die Hilfsmittelversorgung muss als Bestandteil des multiprofessionellen Prozesses anerkannt werden, der im Dialog mit allen Beteiligten, einschließlich Politik und Kostenträgern, gestaltet wird.

Unser Appell

Es liegt an der Politik, die Weichen für eine zukunftsfähige Hilfsmittelversorgung zu stellen. Unsere Gesellschaft wird älter, und der Bedarf an Hilfsmitteln wird in den kommenden Jahren weiter steigen. Andererseits ermöglichen innovative, oft digitale Hilfsmittel die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in den ersten Arbeitsmarkt. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, das System neu zu denken und zukunftsfest zu machen.

Unser offener Brief an die Bundesminister Lauterbach und Heil sowie an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags ist ein klarer Appell: Es darf nicht länger gewartet werden. Die Menschen, die auf Hilfsmittel angewiesen sind, haben ein Recht auf eine schnelle, transparente und effiziente Versorgung. Wir fordern eine Reform, die nicht nur die aktuellen Herausforderungen löst, sondern auch den Weg in eine lebenswerte Zukunft ebnet – für uns alle.

Christiana Hennemann ist Geschäftsführung von rehaKIND – Internationale Fördergemeinschaft Kinder- und Jugendrehabilitation e.V.

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