In den letzten fünf Jahren war es für die Gesundheitspolitik wie im Schlaraffenland. Die hervorragend laufende Konjunktur spülte hohe Beitragseinnahmen von Arbeitgeber und Versicherten in den Gesundheitsfonds, aus dem die Krankenkassen die Mittel für die Versorgung ihrer Versicherten erhalten. Das Parlament entdeckte zahlreiche Versorgungslücken und beschloss großzügig Mehrausgaben – gleichwohl stiegen die Rücklagen bei Gesundheitsfonds und Krankenkassen auf 30 Milliarden Euro an. Ende letzten Jahres aber zeichnete sich bereits ab, dass es damit zu Ende sein könnte: Erstmals wieder gaben die Krankenkassen mehr aus als sie vom Gesundheitsfonds erhielten.
Die Covid-19-Krise hat die Karten jetzt neu gemischt. Dabei ist die Ausgabenseite im Gesundheitswesen durchaus unklar. Denn einerseits gibt es an zahlreichen Stellen Mehrausgaben. Dies gilt nicht nur für die Behandlung und Testung der an Covid-19 erkrankten Patientinnen und Patienten. Hinzu kommt, dass die Politik mit 50.000 Euro je Bett rasch finanzielle Anreize für die Krankenhäuser geschaffen hat, zusätzliche Intensivbetten zu schaffen – auch deswegen ist uns eine Situation wie in Italien oder Spanien, wo die Ärzte auswählen mussten, welcher Corona-Patient ein Intensivbett bekommt, erspart geblieben.
Den Mehrausgaben stehen aber auch spürbar Minderausgaben gegenüber: Nicht zwingend erforderliche Kontakte wurden von den niedergelassenen Ärzten und den Krankenhäusern im großen Umfang abgesagt. Aber auch viele Patienten haben von sich aus auf eine Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen verzichtet. Manche Facharztpraxis hat im April und Mai nur zehn Prozent ihrer üblichen Patientenzahl gesehen und fährt noch immer deutlich unter Normallast. Allerdings werden die Umsatzeinbußen durch mehrere „Rettungsschirme“, die die Politik gebastelt hat, überwiegend ausgeglichen.
Bund oder Bürger: Wer füllt den Gesundheitsfonds auf?
Dabei ist immer noch nicht abschließend klar, welche der Corona-bedingten zusätzlichen Ausgaben aus dem Bundeshaushalt und damit von den Steuerzahlern gezahlt werden und was bei den Beitragszahlern der Krankenkassen hängen bleibt. Denn einige große Ausgabenblöcke (wie die Prämien für zusätzliche Intensivbetten) werden zunächst aus der „Liquiditätsreserve“ des Gesundheitsfonds finanziert. Die ist inzwischen aber völlig aufgebraucht. Wenn hier der Bund nicht einspringt, muss sie von den Beitragszahlern im kommenden Jahr wieder aufgefüllt werden.
Deutlicher als auf der Ausgabenseite wird die Pandemie auf der Einnahmenseite ihre Spuren hinterlassen. Denn der Gesundheitsfonds und damit die Krankenkassen finanzieren sich über einkommensabhängige Beiträge der Versicherten. Auf und ab in der Wirtschaftsentwicklung schlagen sich daher auch entsprechend in den Einnahmen des Gesundheitsfonds nieder. Aus den Erfahrungen der Vergangenheit wissen wir allerdings, dass die Ausschläge sowohl nach oben als auch nach unten zumeist geringer sind als bei der Wirtschaftsentwicklung. Das liegt zum Beispiel daran, dass die Renten ja dieses Jahr plangemäß wegen der Gehaltserhöhungen im vergangenen Jahr kräftig erhöht werden – und damit werden auch die Krankenversicherungsbeiträge der Rentner entsprechend steigen. Auch die Mindest- und Höchstbeiträge für verschiedene Personengruppen bleiben auch in der Krise zunächst unverändert, stabilisieren also die Einnahmen der Krankenkassen.
Wenn daher aktuell geschätzt wird, dass das Wirtschaftswachstum um sechs Prozent sinken wird, wird es für die Krankenkassenfinanzen wohl glimpflicher ausgehen. Aber auch ein Minus von vier Prozent bedeutet einen Einnahmenausfall für den Gesundheitsfonds von zehn Milliarden Euro. Müsste dieser Einnahmenausfall durch die Beitragszahler finanziert werden, wäre ein Anstieg der Beitragssätze bei den Krankenkassen um mehr als einen halben Beitragssatzpunkt erforderlich.
Die große Koalition hat bislang im Rahmen des Konjunkturpaketes beschlossen, dass der Bundeszuschuss an die Gesetzliche Krankenversicherung nächstes Jahr um 3,5 Milliarden Euro erhöht werden soll. Das dürfte nicht ausreichen, wenn deutliche Beitragssatzsteigerungen bei den Krankenkassen vermieden werden sollen. Und die wären Gift für die Erholung der Wirtschaft. Bei der Finanzkrise 2009/10 hat die damalige schwarz-gelbe Koalition den Bundeszuschuss binnen weniger Monate in zwei Schritten um über 13 Milliarden Euro erhöht. Im Ergebnis ermöglichte dies damals sogar eine leichte Beitragssenkung bei den Kassen. Das wäre allerdings aus meiner Sicht zu viel des Guten.
Unabhängig davon, wie hoch der Bundeszuschuss letztlich ausfallen wird: Die fetten Jahre der Gesundheitspolitik sind erst einmal vorbei. Nach der nächsten Bundestagswahl werden auch wieder so hässliche Worte wie „Kostendämpfung“ im Vokabular auftauchen. Und spätestens dann wird wieder gelten, was die frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt vor 15 Jahren anmerkte: Das Gesundheitswesen ist ein „Haifischbecken“, in dem Verteilungskämpfe mit harten Bandagen ausgetragen werden.
Professor Jürgen Wasem ist seit 2007 Unparteiischer Vorsitzender im Erweiterten Bewertungsausschuss. Zudem ist der Gesundheitsökonom Inhaber des Lehrstuhls für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen.