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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Depressionen sind nicht das, was viele glauben

Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe
Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe Foto: Katrin Lorenz

Der Umgang mit und das Wissen über Depressionen hat sich in den vergangenen Jahren verbessert. Dennoch gibt es immer noch viele Mythen in Zusammenhang mit der psychiatrischen Erkrankung. Ulrich Hegerl klärt einige von ihnen auf.

von Ulrich Hegerl

veröffentlicht am 30.09.2021

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Wir alle haben mal schlechte Tage und können uns zu nichts aufraffen. Dann sagen wir so etwas wie „Ich bin voll depri“ oder „Das Wetter ist ganz deprimierend“. Deshalb sind wir aber nicht gleich depressiv. Umgangssprachlich werden die Begriffe „Depression“ und „depressiv“ oft in einem anderen Kontext verwandt. Das kann die Verharmlosung der Erkrankung Depression befördern. Denn Depressionen im medizinischen Sinne sind häufige, schwere, oft lebensbedrohliche psychiatrische Erkrankungen.

Der extrem hohe Leidensdruck wird eindeutig dadurch dokumentiert, dass es keine andere Erkrankung gibt, in der so viele Menschen in ihrer Verzweiflung versuchen, sich das Leben zu nehmen. Mehr als bei anderen schweren Erkrankungen gibt es bezüglich Depressionen neben der laxen Verwendung des Begriffs in der Alltagssprache tiefgreifende und oft folgenschwere Missverständnisse. Die wichtigsten werden im Folgenden angesprochen.

Depression als nachvollziehbare Reaktion auf schwierige Lebensumstände?

Jeder Mensch kennt Sorgen, Bedrücktheit, das Gefühl der Überforderung, der Erschöpfung, der Trauer. Für Laien aber auch unerfahrene Ärzte ist es daher naheliegend zu vermuten, dass depressive Erkrankungen etwas Ähnliches sind. Diese depressiven Symptome sind jedoch zunächst nicht krankhaft sondern völlig gesunde menschliche Reaktionen auf die Bitternisse des Lebens. Echte Depressionen fühlen sich anders an, wie Betroffene übereinstimmend berichten. Bei der Behandlung und Begleitung sehr vieler depressiv erkrankter Menschen zeigt sich, dass Depressionen recht eigenständige Erkrankungen sind, die weniger von äußeren Belastungen abhängen, als oft vermutet.

Dem Fachmann ist es zudem möglich, ein nachvollziehbares Stimmungstief mit Bedrücktheit oder Trauer von einer behandlungsbedürftigen Depression abzugrenzen. So können schwer depressiv Erkrankte oft keine Gefühle, auch keine Trauer, mehr wahrnehmen. Sie fühlen sich wie versteinert (Fachausdruck: Gefühl der Gefühllosigkeit). Manchmal versiegen sogar die Tränen.

Auch die Neigung zu Schuldgefühlen (zum Beispiel: „ich bin nur eine Belastung für meine Mitmenschen“) ist typisch für eine Depression. Bei sehr schweren, sogenannten wahnhaften Depressionen bilden sich zum Beispiel völlig übertriebene Schuldgefühle und Verarmungsängste aus, die den Krankheitszustand auch für den Laien ersichtlich werden lassen. Auch bei manisch-depressiven Erkrankungen, bei denen es innerhalb eines Tages zum Umkippen von einer Depression in eine Manie mit überschießender Energie und Größenideen kommen kann, wird ersichtlich, dass Depressionen richtige Erkrankungen sind.

Immer mehr Menschen erkranken an Depressionen?

Die Statistiken der Krankenkassen und Rentenversicherungsträger zeigen in Verbindung mit Depression unter anderem eine Zunahme der Arbeitsunfähigkeitstage, der Frühberentungen und der Antidepressiva-Verschreibungen. Zusammen mit einer häufigen Medienberichterstattung entsteht so der Eindruck, dass Depressionen deutlich häufiger werden. Dies ist allerdings nicht der Fall, wie epidemiologische Längsschnittuntersuchungen in der Allgemeinbevölkerung übereinstimmend zeigen. Hinter der Zunahme in den Statistiken dürfte die sehr wünschenswerte Entwicklung stehen, dass sich mehr Erkrankte professionelle Hilfe holen, Ärzte Depressionen besser erkennen und behandeln, und – vermutlich am wichtigsten – Depressionen auch Depressionen genannt und nicht hinter weniger negativ besetzten Ausweichdiagnosen wie chronischer Rückenschmerz, Tinnitus etc. versteckt werden.

Für diese Interpretation spricht, dass sich die Zahl der Suizide (Selbsttötungen) in Deutschland seit Anfang der 80er-Jahre von jährlich zirka 18.000 auf etwas mehr als 9.000 drastisch reduziert hat. Vermutlich weil mehr Erkrankte mit Depressionen und anderen psychiatrischen Erkrankungen aus ihrer Isolation herausfinden und behandelt werden. Heute nehmen sich jeden Tag zirka 25 Menschen weniger das Leben als vor 40 Jahren, eine sensationelle Entwicklung und mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Erfolg der besseren medizinischen Versorgung psychisch erkrankter Menschen.

Körperliche Beschwerden sind Ursache der Depression?

Oft klagen depressiv Erkrankte über unterschiedlichste körperliche Beschwerden wie Kopf- oder Rückenschmerzen, Ohrgeräusche oder Globusgefühl im Hals. Derartige Beschwerden können bei Menschen mit einer Veranlagung zu Depressionen durchaus auch als Trigger für eine depressive Krankheitsphase fungieren, häufiger ist aber der umgekehrte Zusammenhang gegeben: Durch die Depression bekommen körperliche Beschwerden, die sonst als lästiger, aber tolerierbarer Teil des Lebens empfunden werden, die Qualität des Unerträglichen und werden zudem als Ausdruck der Hoffnungslosigkeit der Lebenssituation fehlinterpretiert. Durch eine erfolgreiche Behandlung der Depression verschwinden vielleicht nicht die Ohrgeräusche oder die Rückenschmerzen, sie werden aber wieder Teil des insgesamt doch auch genussreichen Lebens.

Arbeit ist häufig Ursache für Depressionen?

Ein Gefühl der Atemlosigkeit und des „Gestresstseins“ ist vielen Menschen vertraut. Abläufe im Berufsleben werden straffer und schneller. Durch neue Medien wie Smartphone, Mails etc. verfolgen uns Arbeitsprobleme bis in die Freizeit. Die Vorstellung „Wir haben eine Depressions-Epidemie und die moderne Arbeitswelt ist Schuld“ ist deshalb verbreitet. Beide Halbsätze sind jedoch falsch.

Depressionen sind nicht häufiger geworden und die Arbeit ist meist nicht die Ursache der Depression. Zwar fühlen sich alle depressiv Erkrankten erschöpft, ausgebrannt und überfordert. Dieses Erschöpfungsgefühl ist jedoch meist nicht Ursache sondern Ausdruck der Depression. Entsprechend ist auch die Vorstellung, dass Ausschlafen oder Urlaub hilfreich seien, falsch. Jedem depressiv Erkrankten ist dringend von einem Urlaubsantritt abzuraten, da die Depression mitreist. Die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung ist in der fremden Umgebung noch unerträglicher.

Auch Ausschlafen führt bei vielen Patienten mit Depressionen zu einer Verschlechterung der Stimmung. Im Gegenteil: der Schlafentzug, ist eine bestens belegte und sehr wirksame Behandlung bei Depression, die den Betroffenen in vielen Kliniken angeboten wird. Durch Wachbleiben in der Nacht kommt es überraschenderweise bei 60 Prozent der Betroffenen zu einer schlagartigen Besserung der Depression, die allerdings nur bis zum nächsten Schlaf in der folgenden Nacht anhält.

Ist Suizid immer ein Freitod?

Die Menschen haben das Recht, frei über das eigene Leben und letztendlich auch den eigenen Tod zu bestimmen. Der Freitod als möglicher Ausweg nimmt auch der Vorstellung eines Lebensendes voller Schmerzen und ohne Würde und Autonomie etwas von ihrem Schrecken. Suizide erfolgen jedoch fast immer nicht als freiverantwortliche Entscheidungen. Etwa 90 Prozent aller Selbsttötungen sind einsame Handlungen, die vor dem Hintergrund einer psychiatrischen Erkrankung, am häufigsten einer Depression, erfolgen. Das Tragische hierbei ist, dass sich oft schon nach einer Behandlung von wenigen Tagen die Fähigkeit zur Hoffnung und zur Freude wieder eingestellt und die Lebensfreude zurückgekehrt wäre.

Ulrich Hegerl ist Psychiater und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. An der Goethe-Universität Frankfurt am Main hat er die Senckenberg-Ehrenprofessur inne.

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